Thread by @CuriepolisBuch

Zeit für einen nächtlichen Wissensthread! 🧵

Thema:
**Was sind #Gedankenexperimente und wozu nützen sie?**

#Wissenschaft #Philosophie #Erkenntnistheorie

Gedankenexperimente kennt man vor allem aus der modernen Physik, insbesondere aus der Relativitätstheorie.

Mein Lieblingsgedankenexperiment dient zur Herleitung von Einsteins berühmtester Formel: E = mc².

Es geht wie folgt:
Sedat und Kenan stehen auf den Dächern zweier S-Bahn-Züge, die mit naher Lichtgeschwindigkeit aneinander vorbeiziehen. Als sie auf gleicher Höhe sind, beschließen sie, ihre Streitigkeiten mit einem Boxkampf beizulegen -- und holen gleichzeitig zum Schlag aus.

Aus der Elektrizitätslehre wissen wir, dass die Lichtgeschwindigkeit unabhängig vom Bewegungszustand des Beobachters konstant ist (--> threadreaderapp.com/thread/1545533…); seit der Renaissance (Galilei) ist bekannt, dass es keine Möglichkeit gibt, die gleichförmige Bewegung eines Systems...

...irgendwie wahrzunehmen. (Fährt jemand 160 km/h auf der Autobahn und wirft seinem Kumpel auf dem Rücksitz eine Bierdose zu, dann kann dieser sie so gechillt auffangen, als ob sie im Wohnzimmer säßen -- die Dose knallt nicht mit 160 km/h in ihn hinein und bringt ihn um.)

Aus diesen beiden Beobachtungen ergibt sich, dass die Zeit in einem System, das sich an mir vorüberbewegt, relativ zu meinem eigenen Zeitlauf langsamer verstreicht.

Das bedeutet, dass Sedat Kenans Faust verlangsamt auf sich zukommen sieht; ditto der Kenan Sedats Faust! Jeder der beiden Gangsta denkt, dass sein Gegenüber ziemlich wimpy zuschlage! Und dass er dem anderen die Faust deshalb mühelos ins Gesicht zurückboxen könne.

Wenn man annimmt, dass sie normalerweise gleich stark sind, passiert natürlich nichts dergleichen! Aus Symmetriegründen prallen die Fäuste zwischen den S-Bahn-Wagen mit identischer Wucht aufeinander, was Sedat und Kenan ziemlich verblüfft: Hat jeder doch deutlich gesehen...

...dass die Faust des Gegenübers recht langsam auf ihn zukam.
Des Rätsels Lösung kann nur sein, dass Sedats Faust aus Kenans Sicht (und vice versa) schwerer geworden ist, so dass ihre verringerte Gechwindigkeit durch größere Wucht ausgeglichen wurde.

Das einzig ungewöhnliche an der Situation ist jedoch, dass sie sich relativ zueinander bewegen: die vergrößerte Masse der Fäuste kann nur durch kinetische Energie verursacht worden sein. Diese (+analog jegliche Energieform) erhöht die Masse des Systems, in dem sie enthalten ist.

Warum denkt man sich solche lustigen (und etwas albernen) Geschichten aus, um ein Naturgesetz herzuleiten?
Manche Menschen können sich das Ganze dadurch freilich besser einprägen -- andere werden durch die Absurdität der dargestellten Situation eher skeptisch...

-- kann denn an einem physikalischen Modell etwas dran sein, das mittels sich bei naher Lichtgeschwindigkeit prügelnder Gangsta hergeleitet wird?

Es lassen sich etwas realistischere Versionen konstruieren -- Weltraumschlachtschiffe, die mit Railguns aufeinander feuern; oder noch realistischere mit Ionenstrahlen, die in Beschleunigern zur Kollision gebracht werden; und manche, wie der Physiker John Wheeler...

...würden dann sagen, dass Ionen zu klein und Raumschiffe zu sciencefictionmäßig seien, um leicht vorstellbar zu sein, und Schlägertypen auf S-Bahn-Zügen o.ä. deshalb der richtige Weg, sich das Ganze klarzumachen, aber das ist, wie gesagt, ein zweischneidiges Schwert.

"Polizeieinsatz am Ostkreuz, die Weiterfahrt verzögert sich bis auf Weiteres" ist eben bei S-Bahnen eine geläufigere Situation als Bewegung mit 90% c.

Der Grund, weswegen Gedankenexperimente eine sinnvolle Art sind, physikalische Prinzipien zu ergründen, ist ein anderer.

Die dahintersteckende Idee: die Natur muss auf jede Situation, die innerhalb von ihr prinzipiell konstruierbar ist, logisch konsistent reagieren!

"Prinzipiell konstruierbar" bedeutet hierbei im weitesten Sinne: eine widerspruchsfreie Anordnung von Bestandteilen der Natur (Materie, Energie, Teilchen, Strahlung, Felder, etc.), die mathematisch beschrieben werden kann, unabhängig von ihrer praktischen Herstellbarkeit.

Die Gesamtheit aller Anordnungen, die bei einer gegebenen Teilmenge der Natur (oder auch dem Universum insgesamt) möglich ist, nennt man Phasenraum.
Die Grafik zeigt rechts den Phasenraum für eine besonders einfache Teilmenge, ein Pendel.

Der Phasenraum hat soviele Dimensionen, wie zur Beschreibung der möglichen Konfigurationen des Systems Parameter benötigt werden: Teilchenorte und -impulse und Feldgeometrien. Jeder mögliche Systemzustand entspricht einem Punkt im Phasenraum.

Die Naturgesetze bestimmen, wie der Zustandsvektor (bzw. der Phasenraumpunkt) von einem Ort zum nächsten wandert:

p(t+1) = N (p(t))

N(p) ist die Gesamtheit aller für das System relevanten Naturgesetze.

"Die Natur muss stets logisch konsistent reagieren" bedeutet daher: Die Funktion N muss für jeden Phasenraumpunkt definiert sein.

Um aussagekräftig zu sein, braucht ein Gedankenexperiment daher nur eine widerspruchsfreie Kombination von Systemparametern -- irgendeine Anordnung von Teilchenorten, -impulsen, Feldern -- vorauszusetzen, und dann die Funktion N(p), die Naturgesetze, konsequent darauf anzuwenden.

"Zwei Intelligenzen bewegen sich mit naher Lichtgeschwindigkeit aneinander vorüber und beschleunigen kleine Massen aufeinander zu" ist eine widerspruchsfreie Kombination -- man kann der Situation einen Ort im Phasenraum zuweisen, und dann die bekannten Gesetze...

-- Impulserhaltung, Zeitverlangsamung, Symmetrieprinzipien -- darauf anwenden.

Symmetrieprinzipien sind besonders wichtig. Das Einzige, was Physikstudenten noch häufiger sagen als "ich habe ganz viel Stress mit meinen Übungsaufgaben und kann daher nicht zur Party bei Klaus" ist: "Aus Symmetriegründen ist das so-und-so!"

In Symmetrien äußert sich unsere Erwartung, dass die Natur widerspruchsfrei sein sollte. Würde Sedat die Faust seines Gegners diesem ins Gesicht zurückboxen, würden wir (vorausgesetzt: wir wissen, dass sie gleich stark sind) stutzen -- wie kann die Situation asymmetrisch enden...

...wenn sie vollständig symmetrisch begann? Dies käme uns nicht nur unlogisch, sondern geradezu unästhetisch vor.

Sedat und Kenan waren zwei Klassenkameraden von mir in der 1. Klasse der Grundschule. Ich wurde in Köln eingeschult. Sedat war dick und rund, Kenan ein schmales, blasses, stets etwas verschnupftes Hemd.

(Sie waren also in Wirklichkeit keinesfalls gleich stark!)
Sonderlich aggressiv waren sie auch nicht -- jedenfalls nicht aggressiver, als Grundschüler es landläufig sind, was bedeutet, dass sie sich gegenseitig oder auch mich gelegentlich heftig knufften.

Dennoch kann ich nicht widerstehen, wenn es darum geht, meine ehemaligen Klassenkameraden für relativistische Gedankenexperimente einzuspannen.

Sedat und Kenan waren große Nikolausfans. Am 6. Dez. fragte unsere Lehrerin: "Wisst ihr, was heute ist?" und S+K schrien im Chor: "Bald ist Nikilausabend da! Bald ist Nikilausabend da!" -- da wackelte die Lehrerin mit dem Zeigefinger in der Luft herum: "Der heißt doch Nikolaus!!"

Sie fügte hinzu, die Nikolaus würde bestimmt ärgerlich werden, wenn die Kinder seinen Namen nicht richtig aussprächen. S+Ks Begeisterung tat das keinen Abbruch.

Auch ich verstand übrigens eines Zeile des Nikolausliedes nicht richtig: "Bald stell ich den Teller auf / Niklas legt gewiss was drauf..." -- ich hörte dies als: "Niklas legt Gewisswas drauf", und dachte, "Gewisswas" seien Lebkuchen mit weißem Zuckerguss.

Meine eigene Version des "weißen Negers Wumbaba".

Zu spät geboren, um den Erdball zu erkunden -- zu früh, um zu den Sternen zu fliegen -- zur rechten Zeit, um nachts Twitter-Threads über Epistemologie, Grundschulkameraden und Nikolauslieder zu verfassen.

@threadreaderapp unroll