Okay, die letzten mündlichen Prüfungen sind abgenommen, nachher trage ich noch die Noten ein.
Ich fang mal an mit einem exklusiven Einblick in die Realität von wissenschaftlichem Arbeiten & Qualifizierung (Promotion) mit Behinderung/chronischer Erkrankung 😉 1/16
Academia ist ja ein mehr als kompetitives Feld, und Hyperproduktivität, Aufopferung, Selbstaufgabe, keine Wochenende, volle Arbeit auf 50% Stelle sind ja quasi Standard. Am besten dropt man auch gelegentlich, dass man wieder das ganze Wochenende durchgeackert hat 2/
Man will ja schließlich in der nach oben dünner werdenden Luft nicht durch falsche Prioritäten auffallen (Familie(nplanung), Freizeit? Lieber nicht). /s
Das Problem? Wenn es nur um einen vermeintlich messbaren Output geht (Vorträge, Publikationen) wer bleibt auf der Strecke? 3/
Richtig: Menschen die aus unterschiedlichen Gründen nicht so leistungsfähig sind. Nicht ohne Grund sind die Publikationen von Wissenschaftler*innen mit care-Aufgaben (ja, primär Frauen) während der Pandemie zurückgegangen, während Männer im Schnitt mehr publiziert haben 4/
Und wer aufgrund einer Behinderung/chronischen Erkrankung nicht so viel schafft, hat auch Schwierigkeiten, sich in diesem Berufsfeld zu behaupten. Dies ist einer der Gründe dafür, dass es a. so wenige behinderte Wissenschaftler*innen gibt bzw. b. sich viele nicht outen. 5/
Das hat natürlich viele Gründe, unter anderem auch unser grauenvolles Bildungssystem, das behinderten Menschen jeden nur möglichen Stein in den Weg wirft (Inklusion? Fehlanzeige, besser Sonderschule!) und die mangelnde Barrierefreiheit an den Unis etc. etc. 6/
Und zack sind wir schon mitten in den Disability Studies 🙌😉
Eines der Forschungsthemen das mich besonders interessiert ist der Umgang von behinderten Wissenschaftler*innen mit disclosure, also dem Öffentlichmachen der eigenen Behinderung/chronischen Erkrankung 7/
Da spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle: Ist mein Behinderung „sichtbar“ - also lässt sie sich verstecken/kaschieren? Mit welchem Stigma ist meine Behinderung verbunden (zB werden psychische Erkrankungen anders bewertet als körperliche Erkrankungen)? 7/
Welche Assoziationen/Vorurteile sind mit der Behinderung verbunden? Bin ich vielleicht schon anderweitig marginalisiert?- und viele andere Aspekte mehr. Wer genauer nachlesen möchte: Kerschbaum et al. 2017. Negotiating Disability gibt tolle Einblicke in das Thema. 8/ Das Cover des Buchs Negotia...
Vermutlich spielt aber die Angst, als nicht voll leistungsfähig wahrgenommen zu werden eine besonders große Rolle.
Die Uni ist sowieso kein Platz für private oder körperliche Informationen, also verschweigt man eine Behinderung vielleicht doch lieber? 9/
Warum also schreibe ich grade vor 18.000 Leuten darüber, dass ich Mukoviszidose und einen GdB habe? Weil ich längst nicht die einzige Wissenschaftler*in mit Behinderung bin, das aber aufgrund meiner Privilegien (ich bin weiß, cis-het, nicht #firstGen) öffentlich machen kann 10/
Für viele Wissenschaftler*innen die etwa durch soziale Herkunft, race, sexuelle Orientierung etc. schon marginalisiert sind, ist das ggf. noch risikoreicher. Ich oute mich (spätestens seit Ende der Maskenpflicht) auch vor meinen Studierenden 11/
Von denen haben statistisch gesehen nämlich 11% auch eine studienerschwerende Behinderung/Erkrankung - und es braucht mehr Vorbilder.
Behinderung wird nämlich sonst an der Uni immer wieder vergessen - bei Barrierefreiheit, aber auch wenn es nur um race, class und gender geht 12/
Je mehr Behinderung und Barrierefreiheit also auch im Unterricht, bei Prüfungen aber eben auch bei Vorträgen und Konferenzen mitgedacht werden, desto bessere Chancen haben behinderte Wissenschaftler*innen & Studierende, auch ihren Teil in der Wissenschaft beizutragen 13/
Also nicht wundern, wenn es hier diese Woche auch um disclosure geht, um meine eigenen Erfahrungen im System Uni, und auch um Tipps wie zB Konferenzen barriereärmer gestaltet werden können- Disability Studies gibt es nicht ohne die Behindertenrechtsbewegung und Aktivismus 14/
Ich liege übrigens selbst grade völlig erschlagen von den Prüfungen mit einem Wärmekissen auf dem Bauch im dunklen Schlafzimmer - Erschöpfung und Symptome managen gehört auch zum behindert Promovieren dazu 15/
PS: Man kann sowohl „behinderter Mensch“ als auch „Mensch mit Behinderung“ schreiben. Beides ist okay und richtig. Wichtigster Punkt: einfach die Selbstbezeichnung der behinderten Person akzeptieren- alles andere ist ableistisch. Ableismus erkläre ich im nächsten Thread ☺️ 16/fin
Oh PPS: Fragt natürlich jederzeit gern, wenn ihr etwas wissen möchtet 😇

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Jul 20
So wie auch versprochen: Barrierearme Konferenz 101.
Zunächst mal: #AcademicAbleism. It’s a thing. Wirklich. Kaum eine Institution ist so schlecht auf Menschen mit Behinderung eingestellt, denn bis vor gar nicht so lange waren wir eben Forschungsobjekte und nicht Forschende 1/
Man muss also unter Umständen erstmal die Menschen mit Geld (Profs, Dekanat, Stiftungen etc) davon überzeugen, dass diese Maßnahmen nötig sind („ach es kommen doch eh keine Rollstuhlfahrer“ - „war die letzte Konferenz vielleicht im 2. Stock ohne Aufzug? Hmmh?“) 2/
Die folgenden Tipps und Erkenntnisse sind aus der Konferenz "Moving Towards Collective Action: Activism and Academia" entstanden, die ich mit @GailsFagan vom 14-15 Mai hybrid in Kiel organisieren durfte. 3/
Read 21 tweets
Jul 20
Guten Abend 🌅
Wie der Rest von Kiel auch bin ich nach Schilksee geflüchtet und kuratiere wie gestern Abend schon direkt vom Ostseestrand.

Also, wie angekündigt geht es jetzt erstmal um eine Grundfrage der Disability Studies und zwar: was ist eigentlich eine Behinderung? 1/
Das klingt vielleicht erstmal seltsam, weil viele Menschen eigentlich eine relativ konkrete Vorstellung davon haben, was eine Behinderung ist und wie eine behinderte Person aussieht. Indirekt enthalten ist hier also: Behinderung sieht man den Leuten an - Spoiler: nein 2/
Das Ganze ist aber alles andere als einfach. Behinderungen sind vielfältig. Sie sind angeboren oder erworben. Oft sind sie eben nicht auf den ersten Blick erkennbar (quasi unsichtbar). Menschen jeden Alters können behindert sein. Manche Menschen haben mehrere Behinderungen 3/
Read 17 tweets
Jul 19
Okay, der vorläufige Kursplan steht, der Aufsatz ist überarbeitet, die Einleitung ist äh…in Entstehung 😇

Also, heute Abend soll es um #Ableismus gehen.
Der Begriff kommt vom englischen "ableism" — „to be able to“ bedeutet „in der Lage sein zu, oder (etwas) können.“ 1/
Dabei funktioniert der Begriff #Ableismus so wie andere -ismen auch, also Rassismus, Sexismus usw.: man spricht einer Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmte, häufig negative Eigenschaften zu. 2/
Es geht um Ungleichheit und Diskriminierung. Im Fall von #Ableismus werden Menschen also aufgrund ihrer Fähigkeiten (ability) bzw. deren Fehlen bewertet (& abgewertet).
Der Begriff kommt aus den Disability Studies und hat ein Pendant: disableism /3
Read 13 tweets
Jul 16
Die Kuration hier neigt sich langsam dem Ende zu. Ich hoffe, dass ich bisher ein paar Dinge verständlich darlegen konnte. Hier noch eine kurze Zusammenfassung der mir sehr wichtigen Punkte, die selten klar kommuniziert werden.

Ein kurzer Thread /
1. Insektenvielfalt in Deutschland heißt, dass es etwa 34.000 beschriebene Insektenarten gibt. An einem Standort kommen im Laufe eines Jahres durchaus mal 10% davon vor. Von diesen oft 2000-3500 Arten wird traditionell nur ein Bruchteil bearbeitet. /
2. In der Biodiversitätsforschung verfolgen recht wenige Personen einen holistischen Ansatz, der die gesamte lokale Vielfalt adressieren soll. Meist wird mit Zielartengruppen als Teilbetrachtung gearbeitet, z.B. Heuschrecken, Tagfalter, Libellen, Laufkäfer oder Bienen. /
Read 19 tweets
Jul 15
Hier schon mal 5 Account-Empfehlungen, die für einen faszinierenden Zugang zu Artenkenntnis oder Themen zu biologischer Vielfalt sorgen.

1. @sagaOptics - Thorben ist ein absoluter Fotografie-Nerd und macht extreme Makro-Studioaufnahmen. Es gibt keine größere Perfektion!
2. @waldraeubers - Jasmin ist passionierte Biologin, Autorin und noch viel mehr. Auf ihrem 2.-Account gibt es Natur-Stuff und sie veröffentlicht regelmäßig einen empfehlenswerten Newsletter rund um Biodiversität.

3. @RoteListe_RLZ - das Team hinter der Öffentlichkeitsarbeit /
vom Rote Liste-Zentrum ist super engagiert und ich habe die Gesichter letztens auf einer Tagung auch mal kennengelernt. Die Leute

4. @HerbertNickel - Herbert ist führender Zikaden-Spezialist und hat mit die wichtigsten Grundlagen zu den heute viel besser bearbeitbaren /
Read 6 tweets
Jul 15
In der öffentlichen Wahrnehmung haben sich Blühflächen als besonders wirksam für den Schutz und die lokale Aufwertung von Insekten durchgesetzt. Sieht nett aus, ist aber überwiegend Kosmetik. Lokaler Diversität hilft sowas nicht wirklich. Die Studien dazu sind fast alle /
gleich konzipiert. Ich schaue mir die Fläche vorher an oder definiere eine Referenzfläche, ich schaue mir die Fläche nachher an oder definiere meine Blühfläche. Ich werte die Arten aus. Ergebnis: Blühflächen steigern die Diversität. Dass solche Fragen viel komplexer sind und /
dass die eigenen Fragestellungen auch Dinge ausschließen sollten, wie einen reinen Lockeffekt, Auswirkungen auf umliegende Flächen und im Idealfall auch Risiken prüfen, kommt dabei seltsamerweise meist nicht in den Sinn.
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