Guten Abend 🌅
Wie der Rest von Kiel auch bin ich nach Schilksee geflĂŒchtet und kuratiere wie gestern Abend schon direkt vom Ostseestrand.

Also, wie angekĂŒndigt geht es jetzt erstmal um eine Grundfrage der Disability Studies und zwar: was ist eigentlich eine Behinderung? 1/
Das klingt vielleicht erstmal seltsam, weil viele Menschen eigentlich eine relativ konkrete Vorstellung davon haben, was eine Behinderung ist und wie eine behinderte Person aussieht. Indirekt enthalten ist hier also: Behinderung sieht man den Leuten an - Spoiler: nein 2/
Das Ganze ist aber alles andere als einfach. Behinderungen sind vielfÀltig. Sie sind angeboren oder erworben. Oft sind sie eben nicht auf den ersten Blick erkennbar (quasi unsichtbar). Menschen jeden Alters können behindert sein. Manche Menschen haben mehrere Behinderungen 3/
Zwar benutzen wir das Symbol des Rollstuhlfahrers oft als Synonym fĂŒr „behindert“ (zB bei ParkplĂ€tzen oder WCs), aber nicht jede behinderte Person nutzt einen Rollstuhl. Außer Gehbehinderungen oder SinnesbeeintrĂ€chtigungen gibt auch viele behindernde chronische Erkrankungen. 4/
Ob und wie chronische Krankheiten als Behinderungen zĂ€hlen wurde in den Dis. stud. auch erst lange debattiert ist aber mittlerweile anerkannt, auch weil man weiß dass gerade cis Frauen hĂ€ufiger von chronischen Erkrankungen betroffen sind, ist es wichtig, chron. E. mitzudenken 5/
(Ich weiß leider nicht ob es Studien ĂŒber trans, inter oder nicht-binĂ€re Menschen und chronische Erkrankungen gibt, meine Vermutung wĂ€re hier, dass marginalisierte Gruppen hĂ€ufiger von chronischen Erkrankungen betroffen sind, auch durch Traumata oder Diskriminierung) 6/
In den Disability Studies arbeitet man mit Modellen um verschiedene mögliche Definitionen von Behinderung zu beschreiben. Die beiden wichtigsten sind das medizinische und das soziale Modell. Und die erklĂ€re ich jetzt (etwas vereinfacht, die Debatte ist sehr komplex 😅) 7/
Das medizinische Modell ist das Ă€ltere Modell und wird mehrheitlich abgelehnt. Grob gesagt geht das medizinische Modell davon aus, dass Behinderungen individuelle medizinische Diagnosen sind, die geheilt oder „repariert“ werden mĂŒssen 8/
Das mag vielleicht erstmal logisch klingen, ist aber problematisch. Denn Behinderungen per se sind ja eben nicht heilbar und die Barrieren, Stigmatisierung und Ausgrenzung die behinderte Menschen erleben werden dadurch auch nicht abgedeckt. 9/
Beim medizinischen Modell liegt der Blick also nicht auf der Gesellschaft sondern das Individuum wird zum „Problem.“
Gleichzeitig findet durch einen rehabilitativen Blick eine Fremdzuschreibung von Experten statt. Der Fokus auf Heilung kann traumatische Folgen haben 10/
Viele Menschen mit Behinderungen haben medizinische Gewalt und Diskriminierung erlebt und auch hierin liegt ein Grund fĂŒr die Abwendung von medizinischen auf einen gesamtgesellschaftlichen Fokus und das Aufkommen des sozialen Modells 11/
Das soziale Modell entstand in den 1980ern in UK, formuliert von Mike Oliver, und betrachtet Behinderung (disability) als durch die ableistische Gesellschaft verursacht. Menschen mit BeeintrÀchtigungen (impairment) werden durch soziale Einstellungen diskriminiert 12/
Das soziale Modell nimmt also die Gesellschaft in den Blick, weg von medizinischen Diagnosen und dem Individuum, und betrachtet Behinderung als eine kulturelle und politische IdentitÀt, geprÀgt durch Erfahrungen von Exklusion und Diskriminierung 13/
Somit kann die Behindertenrechtsbewegung und das noch junge Feld Disability Studies sich auch von ErzÀhlungen von Behinderung als individuellem tragischen Schicksal wegbewegen. Stattdessen entsteht so das Bild einer positiven IdentitÀt und #DisabilityPride 14/
Auch am sozialen Modell gab es Kritik, etwa dass der Körper zu sehr ausgeklammert wird und Schmerzen oder Fatigue nicht genug berĂŒcksichtigt werden. Insgesamt wird das soziale Modell aber heute auch nicht mehr so streng gehandhabt, sodass auch fĂŒr diese Symptome Platz ist 15/
Also, das sind die beiden Modelle. Am wichtigsten: Behinderung ist eine IdentitĂ€t, keine alleinstehende Diagnose und auch kein individuelles Problem, sondern ein soziales PhĂ€nomen, denn wer als behindert definiert wird ist nicht natĂŒrlich, sondern kulturell & historisch 16/fin
PS: Ich schreib heute Abend noch den versprochenen Thread zu barrierearmen Konferenzen (barrierefrei lĂ€sst sich meistens nicht erreichen) und dann geht’s morgen endlich mal etwas konkreter um Anwendungen dieser ganzen Überlegungen und zum Auftakt um Film und cripping up 😊🍿

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Jul 20
So wie auch versprochen: Barrierearme Konferenz 101.
ZunĂ€chst mal: #AcademicAbleism. It’s a thing. Wirklich. Kaum eine Institution ist so schlecht auf Menschen mit Behinderung eingestellt, denn bis vor gar nicht so lange waren wir eben Forschungsobjekte und nicht Forschende 1/
Man muss also unter UmstĂ€nden erstmal die Menschen mit Geld (Profs, Dekanat, Stiftungen etc) davon ĂŒberzeugen, dass diese Maßnahmen nötig sind („ach es kommen doch eh keine Rollstuhlfahrer“ - „war die letzte Konferenz vielleicht im 2. Stock ohne Aufzug? Hmmh?“) 2/
Die folgenden Tipps und Erkenntnisse sind aus der Konferenz "Moving Towards Collective Action: Activism and Academia" entstanden, die ich mit @GailsFagan vom 14-15 Mai hybrid in Kiel organisieren durfte. 3/
Read 21 tweets
Jul 19
Okay, der vorlĂ€ufige Kursplan steht, der Aufsatz ist ĂŒberarbeitet, die Einleitung ist Ă€h
in Entstehung 😇

Also, heute Abend soll es um #Ableismus gehen.
Der Begriff kommt vom englischen "ableism" — „to be able to“ bedeutet „in der Lage sein zu, oder (etwas) können.“ 1/
Dabei funktioniert der Begriff #Ableismus so wie andere -ismen auch, also Rassismus, Sexismus usw.: man spricht einer Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmte, hÀufig negative Eigenschaften zu. 2/
Es geht um Ungleichheit und Diskriminierung. Im Fall von #Ableismus werden Menschen also aufgrund ihrer FĂ€higkeiten (ability) bzw. deren Fehlen bewertet (& abgewertet).
Der Begriff kommt aus den Disability Studies und hat ein Pendant: disableism /3
Read 13 tweets
Jul 18
Okay, die letzten mĂŒndlichen PrĂŒfungen sind abgenommen, nachher trage ich noch die Noten ein.
Ich fang mal an mit einem exklusiven Einblick in die RealitĂ€t von wissenschaftlichem Arbeiten & Qualifizierung (Promotion) mit Behinderung/chronischer Erkrankung 😉 1/16
Academia ist ja ein mehr als kompetitives Feld, und HyperproduktivitÀt, Aufopferung, Selbstaufgabe, keine Wochenende, volle Arbeit auf 50% Stelle sind ja quasi Standard. Am besten dropt man auch gelegentlich, dass man wieder das ganze Wochenende durchgeackert hat 2/
Man will ja schließlich in der nach oben dĂŒnner werdenden Luft nicht durch falsche PrioritĂ€ten auffallen (Familie(nplanung), Freizeit? Lieber nicht). /s
Das Problem? Wenn es nur um einen vermeintlich messbaren Output geht (VortrÀge, Publikationen) wer bleibt auf der Strecke? 3/
Read 18 tweets
Jul 16
Die Kuration hier neigt sich langsam dem Ende zu. Ich hoffe, dass ich bisher ein paar Dinge verstÀndlich darlegen konnte. Hier noch eine kurze Zusammenfassung der mir sehr wichtigen Punkte, die selten klar kommuniziert werden.

Ein kurzer Thread /
1. Insektenvielfalt in Deutschland heißt, dass es etwa 34.000 beschriebene Insektenarten gibt. An einem Standort kommen im Laufe eines Jahres durchaus mal 10% davon vor. Von diesen oft 2000-3500 Arten wird traditionell nur ein Bruchteil bearbeitet. /
2. In der BiodiversitÀtsforschung verfolgen recht wenige Personen einen holistischen Ansatz, der die gesamte lokale Vielfalt adressieren soll. Meist wird mit Zielartengruppen als Teilbetrachtung gearbeitet, z.B. Heuschrecken, Tagfalter, Libellen, LaufkÀfer oder Bienen. /
Read 19 tweets
Jul 15
Hier schon mal 5 Account-Empfehlungen, die fĂŒr einen faszinierenden Zugang zu Artenkenntnis oder Themen zu biologischer Vielfalt sorgen.

1. @sagaOptics - Thorben ist ein absoluter Fotografie-Nerd und macht extreme Makro-Studioaufnahmen. Es gibt keine grĂ¶ĂŸere Perfektion!
2. @waldraeubers - Jasmin ist passionierte Biologin, Autorin und noch viel mehr. Auf ihrem 2.-Account gibt es Natur-Stuff und sie veröffentlicht regelmĂ€ĂŸig einen empfehlenswerten Newsletter rund um BiodiversitĂ€t.

3. @RoteListe_RLZ - das Team hinter der Öffentlichkeitsarbeit /
vom Rote Liste-Zentrum ist super engagiert und ich habe die Gesichter letztens auf einer Tagung auch mal kennengelernt. Die Leute

4. @HerbertNickel - Herbert ist fĂŒhrender Zikaden-Spezialist und hat mit die wichtigsten Grundlagen zu den heute viel besser bearbeitbaren /
Read 6 tweets
Jul 15
In der öffentlichen Wahrnehmung haben sich BlĂŒhflĂ€chen als besonders wirksam fĂŒr den Schutz und die lokale Aufwertung von Insekten durchgesetzt. Sieht nett aus, ist aber ĂŒberwiegend Kosmetik. Lokaler DiversitĂ€t hilft sowas nicht wirklich. Die Studien dazu sind fast alle /
gleich konzipiert. Ich schaue mir die FlĂ€che vorher an oder definiere eine ReferenzflĂ€che, ich schaue mir die FlĂ€che nachher an oder definiere meine BlĂŒhflĂ€che. Ich werte die Arten aus. Ergebnis: BlĂŒhflĂ€chen steigern die DiversitĂ€t. Dass solche Fragen viel komplexer sind und /
dass die eigenen Fragestellungen auch Dinge ausschließen sollten, wie einen reinen Lockeffekt, Auswirkungen auf umliegende FlĂ€chen und im Idealfall auch Risiken prĂŒfen, kommt dabei seltsamerweise meist nicht in den Sinn.
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