Zur Kontextualisierung des morgen erscheinenden Emma-Interviews (@EMMA_Magazin) «Viele Geschlechter? Das ist Unfug!» mit Christiane Nüsslein-Volhard - ein 🧵.
Frau Nüsslein-Vollhardt ist eine international anerkannte Biologin und Biochemikerin. 1/21
Ihre hauptsächliche wissenschaftliche Schaffensperiode war in den 70er und 80er Jahren. 1995 erhielt sie den "Nobelpreis für Physiologie oder Medizin" für ihre Arbeiten zur genetischen Steuerung der Embryonalentwicklung im Fruchtfliegenmodell (Drosophila melanogaster). 2/21
Biologische Modelle werden in der Forschung eingesetzt, da sich mit ihnen die Komplexität kontextueller physiologischer und umweltbedingter Zusammenhänge reduzieren lässt. Komplexitätsreduktion dieser Art hat also einen methodologischen Wert. 3/21
Es handelt sich um einen biologischen Reduktionismus. Der Soziologe & Wissenschaftshistoriker Robert E. Kohler hat hierzu bereits 1994 ein spannendes Buch veröffentlicht.
Als biologischen Reduktionismus bezeichnet man in der historischen und philosophischen Wissenschaftsforschung eine bestimmte erkenntnistheoretische Position. 5/21
Anhänger dieser Position berufen sich darauf, dass die Gesamtheit eines Faktums genau dann hinreichend erklärt ist, wenn seine einzelnen Bestandteile auf der Mikroebene bekannt sind – etwa im Fruchtfliegenmodell. 6/21
Die Übertragung des biologischen Reduktionismus in andere Zusammenhänge – sowohl biologischer als auch sozialer Natur – ist aus erkenntnistheoretischer und ethischer Perspektive unredlich und mitunter gefährlich. 7/21
Wissenschaftsforscher*Innen und Fachwissenschaftler*Innen zeigen dies bereits seit Jahrzehnten auf. Hier ein Ueberblicksartikel von Anna Stetsenko, die an der CUNY forscht und lehrt: journals.sagepub.com/doi/abs/10.117… 8/21
Im interdisziplinären Feld der Systembiologie, welches erst nach der Hautschaffensphase von Frau Nüsslein-Volhard entstand, wird hingegen davon ausgegangen, daß eine vollständige Erklärung sowohl auf niedrigere als auch höhere Systemebenen Bezug nehmen muß. 9/21
Dies meint, dass in der Biologie ein lebendes System erst dann vollständig verstanden werden kann, wenn wir sowohl dessen internen biologischen Bestandteile und Strukturen als auch dessen Beziehungen zur internen und externen Umwelt kennen. 10/21
Dies ist wichtig für unser Verständnis des Menschen, auch in seiner Geschlechtlichkeit und deren Variationen. Anders als beim Fruchtfliegenmodell müssen beim Menschen die verschiedenen chemisch-biologischen Ebenen und die soziale Ebene zusammengedacht werden. 11/21
Anders als es der politisierte biologische Reduktionismus von Akteuren wie der Emma oder der deutschen #Terf-Szene behaupten ist das biologische Geschlecht beim Menschen aus systembiologischer Perspektive sehr komplex. 12/21
Es besteht aus dem genetischen Geschlecht (1), dem morphologischen Geschlecht (u.a. Genitalien und Gameten) (2), der sexuellen Orientierung (3), der Geschlechtsidentität (4), sowie dem Ausdruck des eigenen Geschlechts (5). 13/21
Es muss festgehalten werden, dass es keine ernstzunehmenden Vertreter der Systembiologie gibt, die die Binarität von Gameten leugnen. Dies ist eine Falschdarstellung von transfeindlichen Akteuren. 15/21
Vielmehr verweisen Sexualwissenschaftler, Systembiologen, Wissenschaftsforscher, und viele trans Menschen darauf, dass Geschlecht jenseits vereinfachter Modelle hochgradig komplex ist. 16/21
Der Begriff «geschlechtliche Vielfalt» ist also kein Ausdruck der Leugnung des methodologischen Reduktionismus des biologischen Geschlechts. Den Verwendern zu unterstellen sie würden dies tun ist unredlich und polemisch. 17/21
Worauf diese hinweisen, ist, dass es schlichtweg sozial und wissenschaftlich gefährlich ist die Rechte und die Würde von Menschen an einem stark reduziertem biologischem Modellzusammenhang orientieren zu wollen. 18/21
@EMMA_Magazin suggeriert dies bereits im Abstract des Interviews:
«Sie wäre selber mit 14 lieber ein Junge gewesen. Aber man könne das Geschlecht nicht wechseln - auch wenn es innerhalb der biologischen Geschlechter eine breite kulturelle und hormonelle Spanne gibt.» 19/21
Hier wird zum einen der Wunsch einer Cis-Frau nach den Privilegien eines Mannes als Ablehnung des eigenen biologischen Geschlechts geframed. Zum anderen wird suggeriert, dieser Wunsch wäre eine Realitätsverweigerung, weil biologisch und sogar kulturell unmöglich. 20/21
Weder ist das eine noch das andere wahr. Trans Menschen geht es nicht um Privilegien, sondern um Existenz.
Wir freuen uns auf Diskussion in den Drukos. Bitte bleibt aber zivilisiert und freundlich. 21/21
Addendum I:
Liebe ehemalige Biolosophy-Crowd (@ClonalSelection & @Flausen82 etc.), habt ihr einen Punkt der präzisiert werden sollte? Bin gespannt auch eure Perspektiven.
Addendum II:
Wow! Vielen Dank für das grosse Engagement und die vielen konstruktiven, kritischen, nachdenklichen und witzigen Kommentare.
Viele von euch haben Fragen zum Thema Expertise. Deshalb werden wir in unserem nächsten Aufklärungstweet etwas zu #Expert*Innen machen.
Addendum III:
Das Interview mit Frau Nüsslein-Volhard ist nun auf der Website der @EMMA_Magazin ohne paywall verfügbar. Jetzt könnt ihr auch selbst den Beitrag lesen. Achtet auch auf das Framing in den Fragestellungen. Spannend: emma.de/artikel/viele-…
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Nach 35 Jahren in Sachsen: Familie Pham/Nguyen muss bleiben! - Online-Petition. Ein ziemlicher Skandal, wer unterschreiben kann sollte das tun! openpetition.de/petition/onlin…
Kommt, kommt! Wir haben es fast geschafft für Familie Pham/Nguyen!
Wir stehen bei 98%. Nur noch ein paar weltoffene & coole #Sachsen benötigt damit die Petition eingereicht werden kann.
Fehlinformationen über Medizin für junge trans Menschen - ein 🧵.
Seit einigen Tagen wird von Mediziner*Innen und den Eltern von trans Kindern & Jugendlichen berichtet, dass weltweit immer mehr Kliniken, die Behandlungen für junge trans Menschen anbieten, attackiert werden. 1/19
Neben rechts-konservativen US-Medienfiguren wie Matt Walsh verbreiten auch transfeindliche Akteure in Deutschland & der Schweiz Fehlinformationen über die medizinische Behandlung von trans Kindern & Jugendlichen 2/19
Ein Instrument der Vernetzung transfeindlicher Akteure sowie der Auswahl von Attacken gegen Kliniken ist die sogenannte "Gender Map". In Deutschland wurden bereits über 20 Anbieter*Innen von medizinischer Pflege für junge trans Menschen als "Ziel" für Attacken markiert. 3/19
Im Online Diskurs tauchte der Begriff #TERF das erste mal in den späten 2000ern auf. Aber anders als oftmals angenommen wurde er von trans-inklusiven Feminist*Innen bereits in den 1970er Jahren geprägt. 1/15
Es ging in den 1970ern darum den sich entwickelnden radikalen Feminismus, der u.a. auch PoC Menschen und trans Menschen zu integrieren versuchte und sich für deren Rechte einsetze, von radikal & oftmals Gewalttätig auftretenden transfeindlichen Akteuren zu unterscheiden. 2/15
Viele transfeindliche Akteure der Gegenwart behaupten, dass der Begriff eine Verunglimpfung sei - ein Beispiel aus Deutschland ist das for-profit Unternehmen @WDI_Germany, welches sich als feministische grassroots Initiative tarnt um politisch zu agitieren. 3/15
Service Tweet:
Für den #WDI International und den #WDI_Germany sind #Transfeindlichkeit und die Erosion von Rechten für Frauen und andere Menschen mit Uterus ein lukratives Geschäftsmodell.
Der WDI ist kein Verein sondern ein Unternehmen (LTD) mit Sitz in UK. 1/5
Bereits seit einigen Jahren beklagen Menschenrechtler*Innen wie Umyra Ahmad, dass der WDI als trojanisches Pferd sowohl den Menschenrechtsdiskurs als auch UN Institutionen unterwandert. 2/5
Die umfassenden transfeindlichen Kampagnen des #WDI sind sowohl gut organisiert als auch gut finanziert. Es verwundert daher, dass der Verein in seinen Finanzberichten immer wieder angibt, dass er kaum Einnahmen hatte. 3/5
Erstens wird „trans-sein“ für einen politisch motivierten Kulturkampf vereinnahmt. Dadurch ist eine aufrichtige und durchdachte Konversation über die Medizin für trans Menschen, deren Rolle im Sport etc. nahezu unmöglich geworden.
Zweitens ist es für viele Leute schwierig, sich mit einer Realität auseinanderzusetzen, die nicht ihren traditionellen Vorstellungen von Geschlecht entspricht. Hinzu kommt das politische Akteure hieran anschließen und eine Fake-Science des binären Geschlechts verbreiten.
Seit einigen Tagen regen sich auch in Deutschland #TERFs und Konservative über ein neues Theaterstück zu Jeanne D’Arc auf, welches die historische Person als #enby zeigt. Es wird über die "Auslöschung einer feministischen Ikone" gesprochen. 1/6
Dies zeigt eine eklatante Unkenntnis sowohl gegenüber der Geschichte als auch der Kunst. Die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Jeanne D’Arc ist sehr komplex. In Frankreich wird die historische Figur von Linken und Rechten gleichsam vereinnahmt. 2/6
Es gab zig Filme und Theaterstücke. Zum Beispiel Carl Theodor Dreyers berühmter Stummfilm "La passion de Jeanne d'Arc" von 1928. Es gibt so viele Interpretationen, dass eine in der Jeanne als #enby dargestellt wird ihr feministisches Potential nicht schmälert. 3/6