Gestern sprachen wir über strukturelle Ursachen für das Phänomen #workingpoor aus #IchBinArmutsbetroffen.

Heute wird es persönlicher. Was hat diese Struktur mit mir gemacht? Ein 🧵 (was auch sonst 😜)

/1
Wer den Thread gestern verpasst hat: hier ist der Link!



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Als mein Vater vor ca. 20 Jahren die Familie verließ, musste ja jemand Geld verdienen. Das Los als Ältester fiel auf mich. Meine Mutter war mit der Situation nach zwei Jahrzehnten Hausfrau überfordert. Meine Schwester war jünger als ich, hat auch früh zu arbeiten begonnen. /3
Es ist sozialwissenschaftlich nachgewiesen: dein beruflicher Einstieg prägt dich für dein ganzes Leben. Meiner war bei McDonald's, damals für 6,13 Euro pro Stunde. Ein körperlich und mental sehr anstrengender Job. Sicher fragen sich nun einige, was mit mental gemeint ist. /4
"Das ist doch ein einfacher Job!" sehe ich nun einige naserümpfend schimpfen. Ja, er ist einfach zu erlernen, er besteht aber auch aus Phasen der Akkordarbeit, bei oft aggressiven Gästen und, sagen wir, "kreativer", Auslegung des Arbeitsrechts. /5
Du arbeitest im Schichtdienst, oft in Wechselschichten. Heißt, du beendest deinen Dienst oft Nachts um 12 und musst um sechs Uhr morgens schon wieder auf der Matte stehen. Ist das arbeitsrechtlich inkorrekt? Ja. Interessiert das da irgendjemanden? Haha, my sweet summer child. /6
Schichtdienst, auch unter den gegebenen rechtlichen Vorgaben, ist extrem belastend. Du kannst keinen Schlafrhythmus aufbauen, bist immer müde, fühlst dich immer ausgelaugt. Weicht er, wie hier, auch noch von jedem Recht ab, hat man locker mal ein paar Tage ohne Schlaf. /7
Und wir reden hier von harter körperlicher Arbeit, die keine Fehler toleriert. Denn McD ist, wie alle Systemgastronomen, ein hardcore neoliberal durchgeplanter Drecksladen, in welchem Leute die Regeln machen, die noch nie eine Küche von innen gesehen haben. /8
Du musst im Akkord im unglaublichem Tempo jeden Handgriff immer perfekt setzen, sonst drohst du die ganze Maschinerie aus dem Tritt zu bringen. Oft bedient man zwei Stationen gleichzeitig. Machst du einen Fehler, sind Schichtleiter sofort zur Stelle, um dich zu maßregeln. /9
Dauernde Kontrolle ist eh so ein Ding in der Systemgastronomie, ja, im ganzen Niedriglohnprekariat. Da irgendwelche BWLer ohne Plan und nur mit dem Blick auf den Profit von Chefs und Aktionären die Abläufe bestimmen, und sie eigentlich wissen, dass ein Großteil davon Bullshit /10
ist, ist der einzige Weg ständiger Terror der dauerbelasteten Mitarbeiter. Deswegen wird jeder Fehler geahndet, jeder Handgriff überwacht. Es ist eine Übergangslösung bis zur vollständigen Digitalisierung, der Mensch als Zahnradersatz. /11
Mein erster großer Konflikt mit einem Arbeitskraftnehmer war natürlich bei McD. Mitten im Winter schickte mich ein Schichtleiter zum Reinigen der Dächer raus. Ohne Jacke, denn die einzige Jacke mit McD-Logo war mal wieder verschwunden. Meine private Winterjacke durfte ich /12
nicht tragen, weil Logo und so. Ich ging also bei Minusgraden für mehrere Stunden aufs Dach und machte da irgendwelche Staubfäden weg. Danach war ich krank. Lungenentzündung. Meine heutige chronische Lungenerkrankung geht womöglich darauf zurück. Danke, @McDonaldsDENews 👍 /13
In meiner Krankzeit wurde ich gekündigt. Vier Wochen krank ist zu viel für die Personalplanung von McD. Ich habe geklagt, Recht bekommen, bekam etwas Schadensersatz. Mickrig, für eine chronische Erkrankung. Naja, die war damals noch nicht ersichtlich. /14
Später arbeitete ich in einem SKL-Callcenter. Hier ging es stetig um das Erreichen von unmöglich zu erreichenden Provisionen. Das Unternehmen bezog Daten über windige Wege, man musste oft wochenlang die immer gleichen Daten abtelefonieren. Ihr könnt euch vorstellen, wie das /15
ist, wenn man mehrfach die Woche von Herrn Müller angebrüllt wird, weil er schon zig mal gesagt hat, dass er diesen (objektiv betrachtet) Müll nicht haben will. Warum ich trotzdem eine Weile dort blieb? Der Vertrag war unbefristet und das Gehalt war vergleichsweise gut. /16
Ach so, der Chef, so ein neureicher Hochprivilegierter, der in seinem Leben auch noch nie einer richtigen Arbeit nachgegangen war, brüllte natürlich auch ständig. Dass der Laden bei dieser "Strategie" irgendwann vor die Wand fahren musste, war auch klar. Er stellte dann /17
einfach die Lohnzahlungen ein. Das war der Point of no return aus der Armut für mich. Warum? Die Jobcenter waren noch neu und für solche Fälle war keine Hilfe vorgesehen. Ich lebte also über Monate, während der Rechtsstreit lief, von Dispo und Kreditkarte. Irgendwann bekam /18
ich vom Jobcenter kleine zinslose Darlehen - lange nicht ausreichend, um zu überleben, so dass die Kreditkarte weiter belastet wurde.
Kein Problem, ich sollte ja die Lohnzahlungen eingeklagt bekommen, oder?
Nochmal: Oh, sweet summer child... /19
Die Kurzfassung: die Lohnbetrügerei hatte er nicht nur bei mir abgezogen. Auch bei fast allen anderen Mitarbeitern. In der Insolvenzmasse war nicht genug Geld für die Löhne. Mein Anwalt kümmerte sich aber auch nur halbherzig.

Die Folge: /20
Ich bin unverschuldet verschuldet. Und damit kaum in der Lage, die ohnehin schon wenigen Wege zu nutzen, die meine Lage verbessern könnten. Ausbildung? Wovon Schulden bezahlen? Fernlehrgänge? Wovon die bezahlen? Hinzu kommt: mein Vertrauen in das System Lohnarbeit ist /21
nachhaltig erschüttert. Das waren auch nur die größten in einer langen Reihe von Vorfällen. Kein Unternehmen, bei dem ich je war, hat sich seriös verhalten. Sie alle bescheißen dich, über Überstunden oder Urlaub oder Pausenzeiten. /22
Bist du fleißig und zuverlässig, kannst du davon ausgehen, dass sie dir beim gereichten Zeigefinger nach und nach den Unterarm amputieren. Ich habe gelernt: die Werte Fleiß, Leistungswille, Opferbereitschaft werden in diesen Strukturen nicht honoriert, sondern nur als /23
weitere ausbeutbare Ressource wahrgenommen.
Und ACHTUNG!
Es handelt sich nicht um bedauerliche Einzelfälle, sondern diese Dinge sind strukturell so angelegt. Vulgärliberale brauchen mich daher mit Ayn Rand nicht zu belästigen. /ende

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Sep 2
CN: Depression
Am Montag sprachen wir über Tipps für kostenfreie politische Bildung für #IchBinArmutsbetroffen.

Aber eine Ressource übersehen wir gerne. Denn Armutsbetroffenen mangelt es oft nicht nur an Geld, sondern auch an Zeit.

Ein - ich liebe es einfach - 🧵 :D

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Gerade wurde mir bei #youtube das neue #Wirtschaftsbriefing von @MauriceHoefgen angezeigt. Es ist schon ein paar Tage alt, ich würde es gern nachholen.

2:16:17 steht auf der Zeitangabe.

Und nein, das ist kein Vorwurf an Maurice. Komplexe Sachverhalte benötigen Zeit. /2
#IchBinArmutsbetroffen und lohnabhängig beschäftigt. Jeden Tag gehen sechs bis zehn Stunden, je nach Schicht, vollends für die Arbeit drauf. Ich kann in dieser Zeit nichts Anderes machen, nichts nebenbei konsumieren, es geht nicht. In der freien Zeit muss auch der Haushalt /3
Read 17 tweets
Sep 1
Die letzten Tage sprachen wir über Working Poor. Heute möchte ich mit euch über ein anderes Thema sprechen: #Frauen und #Armut:

Ein - wie sollte es anders sein ;)? - 🧵 /1

#IchBinArmutsbetroffen
Männer sind etwas häufiger von #Erwerbsarmut betroffen. Frauen hingegen sind generell häufiger von Armut betroffen. Ihr Risiko liegt bei 16,6 Prozent, bei Männern liegt es "nur" bei 15,5 Prozent. /2
Machen wir uns an dieser Stelle kurz klar: in der reichen Bundesrepublik Deutschland kann jeder Sechste Bundesbürger arm sein.

Nur mal so als Einschub. /3
Read 13 tweets
Aug 30
Ich arbeite mein erwachsenes Leben lang im Niedriglohnprekariat. Entgegen der liberalen Märchen, die wir uns hierzulande erzählen, habe ich mir das nie ausgesucht. Keine Lebensentscheidung von mir hatte Einfluss darauf. Ein 🧵 über Betrüger und Betrogene: /1
Es gibt keine seriösen Arbeitskraftnehmer im Niedriglohnprekariat. Das ist das erste, was wir uns klar machen müssen. Wenn Leute das doch glauben, dann meist, weil sie der Fehlannahme unterliegen, die Interessen des mächtigeren Arbeitskraftnehmers seien mehr wert, als ihre. /2
Arbeitskraftgeber schreiben ihren Unternehmen dazu oft Kompetenzen zu, die sie eigentlich nicht haben. Denn Abhängigkeit, besonders wenn sie ausweglos ist, muss der Mensch vor sich selbst rechtfertigen. Dabei sagt er sich aber nicht "Ich bin halt abhängig", sondern /3
Read 25 tweets
Aug 29
So, bevor ich zu meiner Schwester düse, möchte ich ein Thema ansprechen, das mir wichtig ist.

Journalismus kostet Geld, das führt zu Paywalls. Das ist gerade für uns von #IchBinArmutsbetroffen noch eine zusätzliche Dimension der Ausgrenzung. Für Viele bleiben so nur die
Öffentlich-Rechtlichen, die allerdings auch nicht immer ganz frei von Framing berichten (aber immer noch besser, als der ganze Springer-Unsinn), bzw. unsere Themen auch nur sehr partiell behandeln. Dennoch ist das hier keine Vulgärkritik an den Öffentlich-Rechtlichen! Es gibt
allerdings noch andere Quellen, über die wir uns kostenlos informieren können, bzw. die Crowdfinanziert sind und denen ihr, wenn ihr denn mal könnt, eine Kleinigkeit geben könnt, aber nicht müsst.
Das sind Podcasts und Youtube-Kanäle. Natürlich sage ich ganz transparent:
Read 12 tweets
Aug 28
Das Wochenende ist meine liebste Zeit. Ich nutze es immer, um Dinge abzuarbeiten, die sich in der Woche davor angesammelt haben.

Es ist meine bevorzugte Zeit, mich bei Ämtern und Freunden zu melden. Die reagieren dann meistens nämlich nicht.😜
Kling paradox? Hier die Erklärung:

Ich habe nicht immer die Energie mich um soziale Interaktionen zu kümmern. Häufig ist es so, dass es mich extrem unter Stress setzt, wenn sofort geantwortet wird.

Ich mache immer nur eine Sache gleichzeitig.
Und grade bei Interaktionen mit anderen Menschen muss ich mich stark konzentrieren. Bei Interaktionen mit Ämtern noch mehr. Mit Ämtern spiele ich Schach. Und ich will gewinnen. Deswegen die Frage: Wie viele Infos gebe ich jetzt raus? Was halte ich vorerst zurück?
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May 31
Ich mache eine Ausbildung, arbeite Vollzeit und #IchBinArmutsbetroffen sowie #ArmTrotzArbeit. Ich bin schwerbehindert und mache meine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk.➡️
Hierfür erhalte ich weder Lohn noch Entgelt, sondern „Ausbildungsgeld“ nach dem SGB 3 von der Agentur für Arbeit. Das sind 120€ monatlich. Ich wohne zwar in dem Wohnheim des Berufsbildungswerks (hierdurch fallen viele Kosten weg), ➡️
dennoch empfinde ich diese 120€ als viel zu wenig.

Denn: Ich muss etliche Dinge selbst bezahlen (in den Klammern der Hartz 4 Regelsatz zu dem jeweiligen Punkt):

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