Genauso beliebt wie "Israelkritik" ist heute die IHRA-Kritik, also die Kritik der Antisemitismusdefiniton, die sich durchgesetzt hat und auch vom Expertengremium bei der Bewertung der Kunst auf der #documenta genutzt wurde. Warum ist das fatal? Eine Kritik der IHRA-Kritik. 1/18
Die Arbeitsdefinition Antisemitismus wurde 2016 verabschiedet. Sie bestimmt Antisemitismus als eine Wahrnehmung von Juden, die sich in Hass ausdrücken und sich auch gegen Israel richten kann. 2/18 holocaustremembrance.com/de/resources/w…
Das plausibilisiert sie mit weitverbreiteten Beispielen, die dazu befähigen Antisemitismus zu erkennen. Dabei thematisiert sie zu Recht auch Beispiele von israelbezogenem Antisemitismus. Das geht den IHRA-Kritikern zu weit, weshalb die Definition unter Beschuss geraten ist. 3/18
Zuviel thematisiere sie “Israelkritik”. Dabei liegt der Grund auf der Hand: Gerade in diesem Bereich ist dringend Aufklärung vonnöten. Die Kritiker beweisen das ungewollt, indem sie gerade diesen Teil der Definition kritisieren - und eine Alternative anbieten, die keine ist. 4/18
Denn die Jerusalemer Erklärung, auf die sich die IHRA- und Israelkritiker seit letztem Jahr berufen, thematisiert genauso oft “Israelkritik” - nur eben indem sie sie vom Antisemitismusvorwurf freispricht. 5/18
Denn viele Punkte, die die IHRA Definition (auch unter impliziter Adaption des sogenannten 3D Test) für antisemitisch erklärt, nennt diese Alternative jetzt “nicht per se antisemitisch”. Ach was. 6/18
So als ob es nicht immer auf den Kontext ankäme - nur lernt man in der JDA nicht, wann diese Fälle dann eben doch antisemitisch sind. Zur Bestimmung von israelbezogenem Antisemitismus ist sie nicht brauchbar. Im Gegenteil. 7/18
Die JDA sabotiert die Erkenntnis von israelbezogenem Antisemitismus und schwächt damit die Antisemitismusbekämpfung. Das ist fatal. Die IHRA Definition reagiert auch auf den grassierenden Antisemitismus ihrer Zeit. 8/18
Seit 9/11 florieren antisemitische Verschwörungserzählungen und zunehmend auch die “Israelkritik”. Die Beschneidungsdebatte 2012 und die antiisraelischen Demos 2014 sind deutsche Wegmarken der Zeit, in der diese Definition entwickelt wird. 9/18
Mit dem grassierenden Antisemitismus entsteht (endlich) auch so etwas wie ein politisches Verantwortungsbewusstsein, das etwas getan werden muss. Antisemitismusbekämpfung wird in Deutschland auch (!) zu einer Aufgabe des Staates - mit allen Vor- und Nachteilen. 10/18
Die Geschichte dieser Ambivalenzen und (Un)gleichzeitigkeiten muss erst noch geschrieben werden. 11/18
Die IHRA-Kritik ist nun auch deshalb so fatal, weil sie diese Entwicklung ausbremst und Errungenschaften der Antisemitismusbekämpfung in Frage stellt. Zweifel werden gesäht, aber Klarheit bringt das keine. 12/18
Im Gegenteil: die scheinbare Alternative dient nur als Feigenblatt für diejenigen, die sich ihre Israelkritik nicht verbieten lassen wollen. 13/18
Die Kritik hat die Verbreitung der IHRA nicht gebremst. Jüngst hat die Lufthansa die Definition angenommen. Das Unternehmen folgt damit Fußballvereinen, Staatsanwaltschaften, Polizeien, Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. 14/18 juedische-allgemeine.de/politik/luftha…
Die Idee ist: Mit der Anerkennung der IHRA Antisemitismusdefinition wird eine Grundlage gelegt, um sensibel für Antisemitismus zu sein - Antisemitismus endlich anzugehen, damit besser erkennen und bekämpfen zu können. 15/18
Genau damit ist diese Definition ein Teil dieser Entwicklung, die ich oben beschrieben habe. Es ist gut, dass es eine Definition gibt, mit der viele etwas anfangen können, vor allem auch Menschen, die sich vorher kaum mit dem Thema befasst haben. 16/18
Die IHRA operationalisiert Antisemitismusbekämpfung. Selbstverständlich ist sie nicht unfehlbar und soll kritisiert werden. Immer her mit den cleveren Kritiken. Denken wir die Definition weiter, um Antisemitismus besser erkennen zu können. 17/18
Kritiken aber, die nur zum Ziel haben, “Israelkritik” vom Makel des Antisemitismus zu befreien, führen leider in die falsche Richtung - sie führen nach Kassel. 18/18
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Lesenswert, Aber! Peter Schäfer, der ehem Direktor des @jmberlin, veröffentlichte 2020 eine "Kurze Geschichte des Antisemitismus". #Antisemitismus, so Schäfer, ist 1 "vielköpfige Hydra", die "lebendiger denn je" ist. Eindrücke und auch kritische Überlegungen als #Thread. 1/19
Schäfer schreibt über die langen Kontinuitäten des Antisemitismus beginnend mit der griechisch-römischen Antike. Insbesondere die erste Hälfte des Buchs ist lesenswert. Er zeigt, dass die Unterscheidung von Antijudaismus und Antisemitismus nicht trägt, 2/
weil auch sehr alte Formen des Judenhasses schon die Ermordung von Jüdinnen und Juden anvisierten und nicht immer auf ihre Missionierung setzten. Dem Antisemitismus ist also schon sehr lange ein eliminatorisches Element inhärent. 3/
Die Nationalsozialisten setzten alles daran nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch alles Jüdische aus der Welt zu schaffen. Sie änderten sogar die dt Buchstabiertafel, was die BRD nicht zurücknahm. Gut, dass sich das jetzt ändert! juedische-allgemeine.de/unsere-woche/n…
"Jetzt soll im kommenden Jahr 2021 auf Initiative des baden-württembergischen Antisemitismusbeauftragten Michael Blume die Buchstabiertafel der Weimarer Republik wieder neuveröffentlicht werden und gelten, wie das Deutsche Institut für Normierung mitteilt."
Ein sehr lesenswerter Text, der nicht nur die Geschichte dieser nationalsozialistischen Änderung erzählt und ihrer gescheiterten Aufarbeitung, sondern auch deren fundamentale Bedeutung erklärt!