Er behandelt die Hintergrundbedingungen in der Schweizer #Europadebatte. Ein (vielleicht zu langer) 🧵.
Btw: Artikel diesen Umfangs können in der Schweiz nirgends open access publiziert werden. Ihr kriegt ihn auf SwissLex oder mit DM an mich. 1/n
Der Artikel stellt 2 Hypothesen auf:
1.) Es gibt in der CH-Europadebatte kaum Druck, Alternativen zum europäischen Projekt und zu einer institutionellen Beziehung zu diesem zu formulieren.
2.) Die implizit angenommene Alternative ist oft die einer Spaghettischüssel.
Diese Hintergrundannahme, wenn benannt, eröffnet gleich mehrere Grundsatzdiskussionen:
-zum Begriff der Freiheit
-zum Verhältnis des Politischen zum Ökonomischen
-zum Verhältnis Markt<>Staat
-zum Schweizer Geschichtsverständnis
-zum methodologischen Nationalismus
Let me unpack:
Um diese Hintergrundannahmen offenzulegen, verbindet der Artikel 2 Konzepte miteinander, jenes der Spaghettischüssel und jenes des Rodrik-Trilemmas. Zusammen genommen können diese beiden zeigen:
-Warum eine Spaghettischüssel keine Alternative zu einem gemeinesamen Forum ist und..
...dass das Rodrik-Trilemma unentrinnbar ist, auch im Verhältnis der Schweiz zum politischen Europa.
Zunächst zur Frage, was mit einer Spaghettischüssel gemeint ist, dann zum Rodrik-Trilemma und seinen Implikationen für die Europadebatte:
Die Spaghettischüssel ist eine alternative internationale Ordnung; eine, in der es keine zentralen Foren gibt, sondern bilaterale Verträge von allen mit allen. In der kurzen Zeit zwischen dem Cobden-Chevalier-Vertrag und dem WKI bestand eine solche.
Grafik: Markus Lampe.
Die Schweiz war damals ein sehr aktiver Akteur in dieser "Mutter aller Spaghettischüsseln". Sie entsprach dem Schweizer Wunsch von Teilhabe ohne Beteiligung sehr gut, stiess aber auch sehr schnell an ihre institutionellen Grenzen.
Der Begriff der Spaghettischüssel wurde zuerst von Jagdisch Bhagwati 1995 benutzt, im Kontext der Gründung der WTO. Er stellte sich damit gegen die im Washington Consensus dominante Ansicht, jede Handelsliberalisierung sei positiv, auch wenn nur bilateral. Bhagwati war skeptisch.
Ich argumentiere, die Vorbehalte gegen eine Spaghettischüssel liessen sich über den Kontext von Freihandelsverträgen ausdehnen und müssten (für die Europadebatte) zusammen mit dem Rodirk-Trilemma gelesen werden.
Das Rodrik-Trilemma wurde 2011 von Dani Rodrik formuliert.
Das Trilemma besagt, dass von den den 3 Zielgrössen "mehr Globalisierung", "mehr nationale Souveränität" und "mehr Demokratie" nur jeweils 2 ausgebaut werden können. Die dritte muss dann abgebaut werden. Vor diesem Trilemma steht auch die Schweiz gerade.
Rodrik verwendet einen sehr problematischen Souveränitätsbegriff. Doch er hilft, eine Reihe von Dingen in der Europadebatte offen zu legen. Zunächst erlaubt es, 2 Lager zu identifizieren.
-Ein Lager, das glaubt, das Trilemma sei entrinnbar (nämlich durch eine Spaghettischüssel)..
-und ein Lager, das diesen problematischen Souveränitätsbegriff will, eine "goldene Zwangsjacke", in der zwar keine Souveränität an internationale Institutionen abgetreten wird, aber an Weltmärkte, die das Primat der Politik durch ökonomische Sachzwänge beschneiden.
Es würde der Schweizer Europadebatte enorm gut tun, man müsste jeweils sagen, welchem Lager man angehöre. Und es würde ihr enorm gut tun, alle Teilnehmenden müssten offen legen, welche 2 der 3 Zielgrössen sie maximieren wollen.
Das Rodrik-Trilemma erlaubt es, die EU in ein radikal anderes Licht zu stellen, als in der CH üblich.
Bei Rodrik ist sie der (mangelhafte aber beste) Versuch, Demokratie und Globalisierung zu maximieren und das Primat der Politik unter Bedingungen der Globalisierung zu schützen.
Zusammen mit der Spaghettischüssel zeigt das Trilemma auch ein Spannungsfeld auf, das in der Schweiz in der Regel ignoriert wird (hier z.B.: nzz.ch/wirtschaft/wie…): Jenes zwischen einem Wettbewerb von Unternehmen und einem Wettbewerb der Systeme....
...Das erste braucht ein level playing field. Das zweite ist ein Wettbewerb unterschiedlicher Levels.
Vgl. dazu auch: papers.ssrn.com/sol3/papers.cf…
Der Artikel enthält eine lange Reihe von Argumenten, warum eine internationale Zusammenarbeit ohne ein zentrales Forum (wie z.B. die EU), also Spaghettischüssel nicht funktionieren wird; warum sie sehr schnell an Problemen kollektiven Handelns aufläuft.
Insbes. argumentiere ich, dass Staaten wie die Schweiz in einer solchen Welt weder demokratischer, noch souveräner wären, noch dass Europa weniger zentralistisch wäre. Technokratische Gremien und regionale Hegemonen würden an die Stelle des zentralen Forums treten.
Dennoch gilt für weite Teile der CH-Politik was auch für Brexiteers gilt: Die Spaghettischüssel ist für sie nicht ein Problem, sondern ein Programm, wenn auch eines, das notorisch vage und ohne Detailschärfe bleibt (bleiben muss; sonst würden seine Mängel sofort offensichtlich).
Hier ist vollkommen unklar, was "ungehinderte Marktzugang unter Einbezug von Wertschöpfungsketten" bedeuten sollte. Es ist eine Phrase ohne ökonomischen oder juristischen Gehalt.
Eine weitere Parallele zu Brexiteers ist Millenarismus. Der Glaube, dass alles einfach werde, wenn erst einmal das Joch der EU abgeschüttelt sei (und die EU zum Scheitern verurteilt sei). Die implizierte einfache Alternative ist eine Spaghettischüssel: economist.com/bagehots-noteb…
Paul Widmer in der @NZZaS ist ein Beispiel für so einen Endzeitoptimisten. Er nimmt dabei interessanterweise Bezug auf Wolfgang Streek, die linke Variante des Untergangspropheten und Gläubigen an eine Kooperation ohne zentrales Forum: magazin.nzz.ch/meinungen/die-…
@NZZaS Nichts an der Sehnsucht nach einer Globalisierung ohne Forum macht Sinn, ohne den Glauben an eine Sollbruchstelle zwischen Politik und Wirtschaft, wobei nach diesem Glauben die wirtschaftlichen Fragen globalisiert werden könnten, die politischen hingegen lokal entschieden.
Doch die Annahme einer solchen Sollbruchstelle ist problematisch; letztlich gegen das Primat der Politik gerichtet.
Es ist eine politische Frage, was alles eine politische Frage ist.
Drum braucht es politische Foren, die kongruent sind mit der Ausdehnung von Wertschöpfungsketten.
Insofern ist Neoliberalismus die Mutter der Spaghettischüssel (als politisches Programm). Ziel ist nicht mehr Demokratie oder mehr Souveränität, sondern weniger Politik und mehr Markt. Mehr gemeinsames/politisches Forum (ob lokal oder international) bedeutet ihm weniger Freiheit.
Die Vorstellung von Markt und Politik als Surrogat ("mehr Freiheit, weniger Staat"), statt als Gegenseitige Voraussetzungen füreinander, ist eine Ursache für die Misere der Schweizer Europadebatte.
Rodrik kann hier entgegenhalten. Mehr Markt bedingt oft mehr Staat (oder mehr politisches Forum, um den Markt politisch zu regulieren): "If you want markets to expand, you need governments to do the same." jstor.org/stable/10.1086…
Fazit:
Ein Ausweg aus der europapolitischen Misere der Schweiz gelingt nur, wenn wir ganz zum Grundsätzlichen zurück gehen:
-Zur Frage, inwiefern öffentliche Institutionen Freiheit bedrohen und generieren....
...
-Zur Frage, ob es eine Grenze gebe zwischen wirtschaftlichen und politischen Problemen (es gibt sie nicht)
-Zur Frage, wie politische Foren gestaltet werden, wenn Nationalstaaten kleiner sind, als die wirtschaftliche Realität.
Dieser letzte Punkt ist auch interessant für unser Geschichtsverständnis. Denn ökonomische Fragen waren schon vor der EU grösser als Nationalstaaten. Sie wurden damals einfach mit dem Mittel des Imperiums gelöst, nicht mit dem Mittel des Binnenmarktes.
Es wäre daher zentral, auch für die Schweizer Europadebatte zu verinnerlichen, was Timothy Snyder sagt: "Die EU ist die einzige funktionierende Antwort auf die zentrale Frage der Moderne: Was kommt nach Empire?"
Wem diese Fragen zu grundlegend und zu verkopft sind, der kann einen Beitrag zur Verbesserung der Europadebatte leisten mit zwei einfachen Gegenfragen:
-Was wäre DEINE Alternative zur EU?
-Welche zwei der drei Zielgrössen in Rodriks-Trilemma möchtest du maximieren?
Merci an alle, die zu früheren Versionen dieses Textes Feedback gegeben haben, insbes. @alienor_nina, @JanosAllAmm und @georges_baur, aber auch @SchaerWords (der dem Paper wenig gutes abgewinnen konnte).
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Wer die DruKos hier drunter durchsieht, blickt in Abgründe, die uns zeigen, dass die Situation noch ernster ist, als gedacht.
Vielleicht hilft ein 🧵zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes "Remigration" und zur Rolle von Euphemismen bei menschenverachtenden Bewegungen.👇
Der häufigste DruKo ist, dass es sich bei "Remigration" um einen harmlosen wissenschaftlich definierten Begriff handle.
Dieses Argument kommt in 2 Varianten. Entweder, es handle sich nur um einen Abschnitt eines Migrationszyklus, oder es gehe nur um "illegale Einwanderer".
Daher kurz eine Auseinandersetzung damit, wer den Begriff wie verwendet. Beginnend mit @MarcFelixSerrao in seinem "Remigration? - Ja!" Text für die @NZZ. Serrao bringt hier eine Technik zur Perfektion, die er von der AfD selber gelernt hat:
Short🧵zu dem recht üblen Artikel mit der suggestiven Frage "Wer braucht noch die Menschenrechte" von @MarkusBernath. Sein Hauptproblem ist, dass er zwar streift, dass es in der #EMRK nicht um Asylrecht geht, sondern um das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung....
@MarkusBernath @NZZaS ...dass er dann aber dennoch so tut, als handle es sich um asylrechtliche Rechtsprechung (das ist gerade nicht der Fall). Das erste, was man missversteht, wenn man das so darstellt, ist, dass die Ruanda-Politik gemäss Supreme Court nicht nur die EMRK verletzt, sondern auch...
@MarkusBernath @NZZaS ...Landesrecht und verschiedene weitere internationale Konventionen (darunter auch den unkündbaren Uno-Pakt II), die ebenfalls ein Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung enthalten. Mit der Kündigung der EMRK wäre es also nicht getan.
Gerhard Schwarz Kolumne in der @NZZ von gestern ist ein derart guter Marker für alles, was falsch läuft in der Europadebatte der Schweiz, dass man ihn erfinden müsste, wenn es ihn nicht gäbe. Ein kurzer 🧵 nzz.ch/wirtschaft/sch…
@NZZ Die Probleme in der Europadebatte der Schweiz entstammen nicht nur der Nationalromantik (von der der Text ebenfalls trieft), sondern der neoliberalen Sehnsucht nach Zusammenarbeit ohne Institutionen (was nichts anderes als eine Sehnsucht nach Entpolitisierung der Politik ist).
Dieses Problem tritt oft (allerdings besonders markant bei Gerhard Schwarz) zusammen mit dem Problem auf, dass "Freihandel" als Platzhalter für die einfache und effektive Lösung von Problemen verwendet wird, ohne im geringsten zu erklären, was damit gemeint ist.
Die Pledge-Phase für die #Europainitiative hat begonnnen.
Wie funktioniert die Initiative?
Warum verdient sie
- deinen Aktivismus?
- deine Unterstützung durch Mitgliedschaft in einer der Trägerorganisationen?
- deine finanzielle Unterstützung?
Ein 🧵
Was heisst, dass ein Problem strukturell ist?
Es bedeutet, dass das Problem tiefer liegt, als beim Unwillen der involvierten Personen (BR; Parlamentarier...), sondern dass das politische System ihnen systematisch Anreize setzt, das Problem zu verschieben statt zu lösen.
Zeit für einen kleinen Argumente-Marathon gegen das #PMT.
Argument #1:
Die Definition von "Gefährder" ist uferlos. Sie ist schon erfüllt von Personen, die angelblich Dinge planen, die gar nicht strafbar wären, wenn ausgeführt. operation-libero.ch/de/errorgesetz
Argument #2:
Das #PMT ist ein kafkaesker Albtraum. Denn niemand kann sich vom Vorwurf befreien, in Zukunft vielleicht einmal etwas böses vorgehabt zu haben (das nicht mal strafbar zu sein bräuchte, damit das Repressionsdispositiv des PMTs ausgelöst wird). operation-libero.ch/de/errorgesetz
Argument #3:
Die Idee, die Polizei könne Straftaten verhindern, bevor schon ein Verdacht darauf bestehe, löst - im Kontext der Digitalisierung - einen ungeheuren Datenhunger der Behörden aus. Denn mehr Muster zu erkennen verlangt nach mehr Daten. operation-libero.ch/de/errorgesetz
Heut vor 20 Jahren hat das Stimmvolk die #Bilateralen I angenommen (67.2%).
Ohne #Corona hätten wir nur Tage vor dem Jubiläum über die #Kündigungsinitiative abgestimmt, die die Bilateralen I kündigen würde.
Aufgeschoben, ist nicht aufgehoben.
Zeit für einen Würdigungs-Thread 1/n
Als politisches Mehrheitsprojekt war der bilaterale Weg ein Erfolg. Er wurde wiederholt an der Urne bestätigt.
2005 wurde die Schengen-Assoziation angenommen (54.6%)
Auch 2005 wurde die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen Mitgliedstaaten angenommen (55.9%) 2/n
2009 wurde die Weiterführung der Personenfreizügigkeit und deren Ausdehnung auf Rumänien und Bulgarien angenommen (59.6%).
Das Referendum gegen die Ausdehnung der PFZ auf Kroatien und gegen die (bilateralen-freundliche) Umsetzung der #MEI blieb ungenutzt.