Im Krieg gegen die #Ukraine spielt der Begriff des #Genozid|s eine zentrale Rolle: Warum legitimierte Putin seinen Angriff mit der Lüge eines Genozids? Warum sprechen immer mehr Expert:innen von einem genozidalen Krieg #Russland|s gegen die Ukraine? Ein 🧵(1. v. mehreren).

1/20
Zunächst zur Entstehungsgeschichte des Begriffs Genozid: Er geht zurück auf den polnisch-jüdischen Anwalt Raphael Lemkin. Lemkin wurde 1900 in der Nähe von Bialystok, damals Teil des Russischen Reiches, geboren. 1918 wurde er zum polnischen Staatsbürger.

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Schon als junger Mann von achtzehn Jahren, so erinnerte Lemkin sich später, dachte er unter dem Eindruck des Massenmords an den Armenier:innen im Ersten Weltkrieg über ein Phänomen nach, das er später als Genozid bezeichnen würde.

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In den 1920er Jahren studierte er in Lwiw/Lwów/Lemberg Jura und beobachte 1921 mit großem Interesse den Prozess in Berlin gegen Soghomon Tehlirian, der in einem Akt der Selbstjustiz den früheren Innenminister des Osmanischen Reiches Talât Pascha erschossen hatte.

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Tehlirian hatte beim Genozid an den Armernier:innen durch die Jungtürken seine Familie verloren. Auch den Prozess gegen Scholom Schwartzbard verfolgte Lemkin. Schwarztbard erschoss 1926 den früheren Präsidenten der Ukraine, Symon Petljura, in seinem Pariser Exil.

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Schwartzbard hatte bei den anti-jüdischen Pogromen im Zuge des post-imperialen russischen Bürgerkries in der Ukraine ebenfalls Angehörige verloren. An diesen Massakern waren Einheiten beteiligt, die formal Petljura unterstanden. In beiden Fällen wurden die Angeklagten

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freigesprochen. Schon in jungen Jahren als Student interessierte sich Lemkin sehr für internationales Recht, war er doch der Überzeugung, dass Minderheiten vor „Barbarei“ und "Vandalismus" geschützt werden müssten. Mit dem deutschen Angriff auf Polen 1939 war Lemkin klar,

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welches Schicksal Jüdinnen/Juden drohte. Er floh über das sowjetisch besetzte Ostpolen nach Stockholm. Bereits zu diesem Zeitpunkt versuchte er Beweise für die Massenverbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu sammeln, in der Hoffnung

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diese in einem zukünftigen internationalen Prozess zur Verfügung stellen zu können. Schließlich erreichte er 1941 die USA, um eine Stelle an der Universität North Carolina anzunehmen. Weiter sammelte er Beweise für die Verbrechen NS-Deutschlands in Osteuropa und

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versuchte die amerikanische Politik und Strafverfolgungsbehörden darüber zu informieren. Das Ergebnis seiner Recherchen veröffentlichter er 1944 als „Axis Rule in Occupied Europe“. Kapitel 9 trug die Überschrift „Genozid“, ein Begriff, den er erschuf,

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um die Verbrechen der Deutschen an u.a. an der jüdischen, polnischen und russischen Bevölkerung zu fassen. Er erklärte, dass „neue Konzeptionen neue Begriffe“ brauchten und dass ein Genozid sich dadurch auszeichne, dass jemand nicht als Individuum,

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sondern als Teil einer „nationalen Gruppe“ verfolgt werde. Die Welt benötige einen internationalen Vertrag, internationales Recht um solche Verbrechen in Zukunft zu verhindern. (Bild: Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg, Frankfurt a. M., 162)

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Interessant ist, dass Lemkin die Deutschen, nicht nur die Nationalsozialisten, eines Genozids für schuldig hielt, weil Hitler, der aus seinen Plänen kein Geheimnis gemacht hatte, durch freie und faire Wahlen an die Macht gekommen war. Als sich ab
zeichnete, dass die USA

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tatsächlich einen Prozess gegen die Täter des Zweiten Weltkriegs anstrebte, gelang es Lemkin eine Anstellung im War Crime Office in Washington zu bekommen, seine Hoffnung in das Team des amerikanischen Anklagevertreters Robert Jackson aufgenommen zu werden,

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erfüllten sich aber nicht. Seine intensiven Versuche den Begriff in die Anklageschrift zu bekommen, trugen aber trotz Widerstände letztlich Früchte: unter dem Anklagepunkt „Kriegsverbrechen“ fand sich der Vorwurf des „Genozids“(avalon.law.yale.edu/imt/count3.asp),

15/20
der im Grunde der Definition Lemkins folgte, ein eigener Anklagepunkt war es jedoch nicht und während des Prozesses selbst wurde der Begriff (zu Lemkins Frustration) nur selten gebraucht. Zu einem eigenen Anklagepunkt wurde „Genozid“ zum ersten Mal in der Anklage

16/20
im Einsatzgruppenprozess in Nürnberg (1947/48), in der mit Paul Blobel, u.a. einer der Haupttäter von Babyn Jar verurteilt wurde. Lemkin versuchte weiter „seinen“ Begriff zu einem Begriff des internationalen Rechts zu machen, was ihm schließlich auch gelang:

17/20
Am 9. Dezember 1948 verabschiedete die UN „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ und definierte Völkermord/Genozid wie folgt ((Quelle: un.org/en/genocidepre…):

18/20
Es folgend Threads zu der Frage, ob man den Holodomor als Genozid definieren kann und zu der Frage, ob der jetzige Krieg Russlands gegen die Ukraine diese Definition erfüllt.

19/20
Literatur zu Lemkin: Das großartige Buch "Rückkehr nach Lemberg" von @philippesands, in dem der Autor die Geschichte der eigenen Familie mit der Geschichte der Konzepte des "Genozids" und der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verbindet.

20/20
Korrektur zu Tweet 11: bei den Begriffen "jüdisch, polnisch, russisch" handelt es sich um ein Originalzitat von Lemkin. Die Verbrechen der Deutschen richteten sich gegen die gesamte sowjetische Zivilbevölkerung, nicht nur gegen Russ:innen. Danke für den Hinweis @VeroWendland.

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