Garry Kasparov im Gespräch mit Konstantin Eggert bei @DW
Der Westen hat sich von der liberalen Opposition einlullen lassen, dass Russland ein ganz normales postsozialistisches Land und eine "hybride Demokratie“ sei. Das führte zum Aufmerksamkeitsverlust gegenüber der RF.
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Kasparov und andere haben "darauf verwiesen, dass ein Krieg unausweichlich ist, dass Putin eine große Konfrontation nicht mit der Ukraine, sondern mit dem Westen vorbereitet. Aber die Stimmen von Einzelgängern wie mir gingen unter: 'Wovon reden Sie?' 'Müssen zusammenarbeiten'." 1
"Natürlich ist es ein russ. Krieg. Der 2WK wurde nicht von Hitler geführt, sondern von Hitlerdeutschland. Es ist Putins Russland.[..] Es ist die tiefgreifende Faschisierung der Gesellschaft, die es ermöglicht, dass der Krieg nicht nur begann, sondern solch monströse Formen hat."2
"Tatsächlich läuft dieser Prozess der Herstellung von Entmenschlichung schon seit vielen Jahren und setzt sich in rasantem Tempo fort. In #Russland gibt es heute keinen Antikriegsprotest. Es ist klar, dass die meisten Menschen sich nicht am Krieg beteiligen wollen." 3
"Aber wenn es zu einer Mobilmachung kommt, und die wird jetzt immer massivere Formen annehmen, sind die Fragen, die die Angehörigen beunruhigen, wie sind ihre Kinder ausgerüstet? Warum wurde sie mit so schlechten Waffen in die #Ukraine geschickt? 4"
"Außerdem hat man das Gefühl - nur ein Gefühl, denn man kann den Zahlen kaum trauen - dass die Unterstützung für den Krieg zugenommen hat. Der Krieg wird zu einer gemeinsamen Sache. Sie schicken Ihren Sohn und die Söhne Ihrer Brüder in den Krieg..." 5
"Menschen reagieren auf unterschiedliche Weise. In vielen Fällen wird [durch Tod von Angehörigen] der Hass auf die #Ukraine geschürt und nicht auf denjenigen, der sie in den Tod geschickt hat. Wir sehen nicht mehr den Protest, den wir zu Beginn des Krieges gesehen haben." 6
"Ich fordere niemanden auf, auf die Straße zu gehen, weil ich selbst in Sicherheit bin. Ich weise aber darauf hin, dass es im Iran & China nicht weniger gefährlich ist, als in Russland. Trotzdem gehen die Menschen raus. Wir haben es mit einer stagnierenden Gesellschaft zu tun."7
"Wer weiß schon, was [die Russen] tatsächlich denken? Und was hat das überhaupt mit den Ereignissen in der Ukraine zu tun? Russische Waffen töten Menschen, lassen sie frieren, ohne Licht, ohne Wärme, ohne Wasser, ohne Nahrung. Was hat das mit dem zu tun, was die Leute denken?" 8
"Wenn das Ergebnis das ist, was wir erwarten - ein katastrophales Ergebnis für Russland, mit einer militärischen Niederlage, mit der Rückgabe aller ukrainischen Gebiete, mit der ukrainischen Flagge in Sewastopol - wird es ein Schock für die Gesellschaft sein." 9
"Russland wird nach seiner Niederlage in der Ukraine nicht länger eine Macht der ersten Klasse sein. Es handelt sich dann um eine zweitklassige Macht. Es gibt zwar noch Atomwaffen, aber niemand wird die Knöpfe zu diesem Zeitpunkt drücken." 10
F: Keine nuklearen Waffen?
"Das erfordert die Bereitschaft einer großen Zahl von Menschen, ihr eigenes Leben zu riskieren. Ich glaube, all diese Admirale & Generäle denken darüber nach, wie sie das Gestohlene sichern. Bei der Kriegslotterie wurde schon viel Geld verspielt." 11
Eine Niederlage werde die kritische Masse für eine soziale Explosion erzeugen, die Bewaffnete nach Russland bringe. "Bislang gehen sie in die Ukraine. Das sind die Zutaten von 1917: Eine Armee, die bei Niederlage zum Totengräber des Regimes wird." 12
[Eine gewaltvolle Auseinandersetzung] wird mit Sicherheit passieren, gerade weil das Land ins Chaos stürzen muss. Der einzige Weg für Russland, auf die befestigte Strasse der Zivilisation zu gelangen ist ein Default der Regierung." 13
Von #Kasparov kann man etwas über Taktik, Strategie und die Wahrscheinlichkeit zukünftiger politischer Ereignisse lernen. Er ist kein großer Redner, aber ein scharfer Denker & Beobachter. In der oralen Variante des Interviews gibt es noch mehr Hinweise. 14
Am Ende spricht Garry #Kasparov zur tödlichen, russischen Geschichtspolitik des Ressentiments: "Alle Welt sagt nach dem 2. Weltkrieg 'Nie wieder oder Never again', aber Russland sagt 'Wir können es wiederholen'." 15
*leider schlechte UT
Hier findet man eine schriftliche Version des Interviews: 16
Sein Ausgangsargument ist die Erinnerung an die russ. „Desillusionierung", dass die Ukraine Widerstand leistet, weil sie sich nicht als "Proto-Russen" verstehen. Damit wurde die russ. These von den Ukrainern, 'die eigentlich Russen sind', durch die Wirklichkeit widerlegt. 1
Er beobachtet dadurch eine Verschiebung der kulturellen Frage: Man könnte meinen, Russland sei die ganze Zeit mit seinem Wesen 'positiv' beschäftigt, aber es definiert sich nur als Anti-Ukraine. 2
Vor 88 Jahren wurde der Dichter Vasyl Symonenko geboren, Mitglied der "Schistdesjatniki". Zusammen mit Alla Horska und Les Tanyuk entdeckte er 1962 im Wald von Bykivnya bei Kyiv ein riesiges Feld mit Massengräbern der stalinistischen Repression.
Ü:🧵
"Wir waren erschüttert. Alles um uns herum war mit Totenköpfen übersät..." - schrieb Les Tanyuk. Die Kinder spielten Fußball mit einem kleinen Totenkopf und "verzierten" mit ihnen das Fußballtor. Von einem Augenzeugen erfuhren sie Details über das Gräberfeld. 1
5-6 Lastwagen und eine separate Bahnstrecke brachte jede Nacht die Leichen der erschossenen Opfer des NKWD aus Kyiv. Auch in Kulturstätten, die die drei Freunde aus Veranstaltungen kannten, fanden früher Erschießungen statt. 2
"Einwohner von Bachmut identifizieren 1943 Leichen Tausender Juden aus dem Alabasterbergwerk, in das sie von Nazis lebendig eingemauert wurden.
Meine Schwiegermutter war 10J alt, als sie die Leiche ihrer Mutter am Schal identifizierte. Faschisten stürmen nun wieder die Stadt."1/4
Zum Kontext: Das dt. Sonderkommando 4b/Einsatzgruppe C trieb die Juden zu einem Alabasterbergwerk 2 km außerhalb von #Bachmut in einen Schacht. Sie schossen in "die Menge & töteten mehrere Personen. Die übrigen Opfer erstickten, nachdem die Deutschen den Tunnel zumauerten." 2
Die sowjetischen Behörden gaben bei der Bergung der Leichen 1943 (siehe Tweet) die Zahl der Opfer mit 3.000 an. Die nationalsozialistischen Verbrechen in #Bachmut wurden auch bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen behandelt. 3
Der Lyriker Wassyl Stus, der am 6.1. vor 85 Jahren geboren wurde, konnte sehr gut Deutsch. Heinrich Böll schlug ihn 1985 für den Literatur-Nobelpreis vor. Stus starb aber am 4.9.85 im Gulag Perm-36. Dieser Brief von Stus befindet sich in der Forschungsstelle Osteuropa Bremen. 1
Hier der Link mit der Erklärung zur Geschichte der Brieffreundschaft zwischen Wassyl Stus und Christa Bremer und zur Kyiver Helsinki-Gruppe. Hoffentlich bekommen wir bald eine Ausgabe dieser Materialien und zu anderen ukr. Dissidenten. 2 forschungsstelle.uni-bremen.de/de/13/20140605…
Die Freiwilligen der Mission „Schwarze Tulpe“ suchen Leichen ukrainischer Soldaten, um sie ihren Familien zu übergeben. Sie arbeiten seit Jahren, können sich aber nicht an die Schrecken des Krieges gewöhnen. Aufhören wollen sie nicht.
Oleksii Jukov:"Du gewöhnst Dich nie daran, denn wenn Du jemanden findest, dann erlebst Du die Angst, den Alptraum der letzten Minuten, den dieser junge Mann erlebt hat, als er verstand, dass es keinen Weg zurück gibt. Du durchlebst noch einmal alles mit ihm. Das ist sehr schwer."
Jukov: "Dann musst Du die Angehörigen benachrichtigen, dass der Verwandte gestorben ist. Die Hoffnung ist vorbei, dass er sich vielleicht in Gefangenschaft befindet. Das ist schrecklich."
Zizek zur Frage ob alles nur Rhetorik sei und es in Wirklichkeit um Landnahme gehe: "Daran glaube ich leider nicht. Als eine Art linker Marxist glaube ich, dass Rhetorik nie nur Worte sind. Die Ideologie ist eine schreckliche materielle Kraft; Man darf sie nicht unterschätzen.“ 1
Zizeks Angst wegen Bosnien-H und Serbien: "Ist Ihnen aufgefallen, dass man nicht nur über Entnazifizierung, sondern bereits Ent-Satanisierung spricht? Putin wurde nicht nur zum obersten Exorzisten der #Ukraine, sondern praktisch gesamt Westeuropas erklärt. Besorgniserregend.“ 2