Wer sich den Krieg um die Ukraine aus Kreml-Sicht als toxische, schlecht gemanagte Organisation vorstellt, lernt zumindest organisationell aus den letzten Monaten einiges. Gestern wurde Sergei Wladimirowitsch #Surowikin als Oberbefehlshaber der russischen Invasion in der #Ukraine
abgelöst und als "Deputy" Waleri Gerassimow unterstellt, der seine Nachfolge antritt. Ein doppelter Diss. Einmal für den nun kastrierten Surowikin, den die Presse noch vor ein paar Monaten in gewohnter Panik-Mache als "General Armageddon" ankündigte. bbc.com/news/world-eur…
Als auch für Gerassimow, der eigentlich Generalstabschef der Russischen Armee ist. Er darf sich jetzt ums operative Geschäft kümmern.
Warum ist das wichtig? Weil wir so lernen, wie der Kreml funktioniert, Entscheidungen trifft, Zukunftsperspektiven einschätzt und auch mögliche
Nachfolger für Putin aufstellt. Denn wer militärisch am großen Tisch Platz nehmen darf, definiert einiges.
Der Abgang Surowikins und die neue Rolle Gerassimows sagt viel aus über das Machtgefüge im Kreml. Denn in jüngerer Zeit spielten vor allem 2 Fraktionen eine wichtige Rolle:
- die alten Generäle: Meist russische Armee, meist Systemschwimmer, die durch Inkompetenz, Brutalität und/oder Korruption glänzten. Die aber vor allem eine Superkraft hatten, die in Mosku zählt: Loyalität und Systemtreue. Dazu zählen Gerassimow und Verteidigungsminister Shoigu
(war nie Militär, dafür längstgedienter Minister unter Putin) und ein Generaloberst namens Lapin, der auch gerade die Treppe raufgefallen ist.

- die jungen Wilden: Brutale Kriegsunternehmer wie der viel zitierte WAGNER-Gründer #Prigozhin und der Tschetschenen-Führer #Kadyrow.
Beide relativ neu auf der Bildfläche, beide mit eigenen unternehmerischen Interessen im Krieg, beide in der Lage sich vom System unabhängig zu machen, beide besonders brutal und beide sehr erpicht darauf, ihre Rolle mit Social Media auszubauen, was quasi deren Superkraft ist.
#Russland s genozidaler Krieg in der Ukraine startete vor fast einem Jahr mit der Annahme, dass Kiew in 3 Tagen besetzt ist und die Ukrainer:innen den Russen begeistert um die Arme fallen. Da es scheinbar primär Putin selbst war, der die Entscheidung traf und da es wohl nicht
viel zu managen gab, ernannte man keinen Oberbefehlshaber für die Ukraine. Vielmehr marschierte man relativ unkoordiniert aus verschiedenen Richtungen ein und wunderte sich dann, dass nichts funktionierte - v.a. alles, was koordiniert werden musste bei 175.000 Mann mit Waffen.
Ein halbes Jahr verging, das russische Disaster zeichnete sich zunehmend ab und man startete einen ersten Versuch mit einem Oberbefehlshaber, der kurz danach wegen Alkoholproblemen entlassen wurde. Ein zweiter folgte, Verteidigungsmin. Shoigu tauchte ab, businessinsider.com/sergei-shoigu-…
es gab Rücktrittsforderungen gegenüber seinem militärischen Partner Gerassimow, der peinlicherweise auch noch bei einem ukrainischen Raketenangriff verletzt wurde, und plötzlich sah man die "jungen Wilden" immer öfter auf Handy-Screens. foreignpolicy.com/2022/12/21/pri…
Tschetschenen-Diktator Kadyrow und WAGNER-Gründer Prigozhin hätte man im 16. Jahrhundert als Landsknecht Führer tituliert. Beide haben erstmal ihre eigenen Interessen, vor allem wirschaftlich. Kadyrow scheint mit Putin in einer Special Relationship zu stehen. Sein kleines König-
reich hat er ja von ihm geschenkt bekommen. Als dank spendiert er Putin eine Art loyale Leibwache aus Tschetschenen. rusi.org/explore-our-re…
Prigozhin war mal Koch bei Putin und eine Art Mädchen für alles. Er ist ein wahnsinnig korrupter Allround-Unternehmer, der sich mit WAGNER sein eigenes Standbein geschaffen hat. (Wer zum Prinzip WAGNER mal etwas lesen will, empfehle ich diesen 👇 Thread: )
Prigozhin darf WAGNER Söldner aus russischen Lagern und Strafgefangenenkolonien rekrutieren, in seine eigene WAGNER Welt einspeisen. Dafür muss WAGNER auch (wie jetzt in Soledar) die ganz dreckigen Jobs machen. Prigozhin kümmert's nicht. Er rückt mit jedem militärischen Erfolg
näher ans Machtzentrum ran. Und dass man mit jedem zweiten Uniformteil und der einen oder anderen besetzten ukrainischen Mine noch ein paar Rubel extra verdienen kann, stört auch nicht. Kriegsunternehmer/Landsknechte funktionieren so. 👇reuters.com/world/europe/u…
Aber jede schlechte Geschichte braucht natürlich einen Konflikt: die beiden Gruppen sind sich spinnefeind und nutzen Medien, Blogger und Social Media um sich zu positionieren.
Die "alten Generäle" verachten die "jungen Wilden". Als russische Systemschwimmer mit Netzwerken aus
der Frunze-Akademie und dem russischen Regierungsapparat sind sie Emporkömmlinge mit denen man rechnen muss, die aber nicht gleichwertig sind. "Die jungen Wilden" wollen ihren Platz am großen Tisch, den sie aber auf natürlichem Weg nicht bekommen (s.o.).
Um dies zu ändern, nutzen sie ihre Superkraft Social Media gegen die Generäle. WAGNER zahlt gut und macht von sich mit Viral-Videos reden. Kadyrows Leute werden gerne als Tiktok-Kämpfer bezeichnet. Und wenn hin und wieder ein Skandal, ein Fail oder ein besonders korruptes Event
an die abendlichen Diskussionsrunden im russischen TV durchgestochen wird: Perfekt.

Zurück zu Surowikin, "General Armageddon". Der war komischerweise eine Art einigender Faktor. Ohne Zweifel brutal und skrupellos scheint er zumindest in seinem Leben theguardian.com/world/2022/sep…
schon mal als Militär gearbeitet zu haben. Er machte unpopuläre Entscheidungen (Rückzug aus Kherson), die zumindest russische Soldatenleben zu schonen schienen und verdiente sich so Respekt vor Militärs vor Ort. Er schien mit Putin zu können und er
war der erste leitende General, den selbst die jungen Wilden zu akzeptieren schienen. Es gab eine gewisse Form von Welpenschutz oder Grundrespekt. Prigozhin und Kadyrow ätzten gegen Surowikin nicht ganz so giftig wie gegen Shoigu und Gerassimow. Interessant, dass sich das nun
wieder ändert. Denn während die Presse WAGNER Gründer Prigozhin schon fast zum Putin-Nachfolger adelte, sieht das nun wieder völlig anders aus. nypost.com/2023/01/01/sig…
Mit Gerassimow als Ukraine Oberbefehlshaber und Surowikin als Adjutant hat die alte Garde von vor einem Jahr das Heft wieder in der Hand. Zeitgleich wurde General Lapin vorgestern befördert. Lapin hatte im Herbst die Schlacht um Kharkiv für Putin verloren, thesun.co.uk/news/20264650/…
war danach kritisiert und vor allem von den "jungen Wilden" öffentlich brüskiert worden. Zwar war er eine Weile von der Bildfläche verschwunden, aber das hat sich nun geändert. Lapin ist nun Generalstabschef des Heeres. Ja, Aufzüge fahren schnell im Kreml. tagesschau.de/ausland/europa…
Die Netzwerke der "alten Generäle" scheinen doch deutlich dicker zu sein als der Effekt, den schnell zusammengeschnittene WAGNER Videos auf telegram haben können. Putins Machtkonzept basiert jedenfalls fundamental auf der These "Keine Experimente". Er vertraut seinen alten
Generälen, er weiß um die Macht der Russischen Armee. "Die jungen Wilden" lässt er für Spezialthemen mitspielen. Einen Platz am großen Tisch wird es für Prigozhin und Kadyrow erstmal nicht geben. Der bleibt den alten Netzwerk-Russen mit sehr viel Lametta auf der Schulter
vorbehalten - egal, wie sehr sie den Wagen gegen die Wand fahren. In der Sowjetunion funktionierte das so. Im Putinismus funktioniert es auch so. Denn in jeder mafiösen Vereinigung gilt vor Leistung primär eine Regel:

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