Andreas Kappeler sagt im Interview, dass die Geschichte der Ukraine eine ungeheure Gewalterfahrung im 20. Jhd prägte und so im kollektiven Gedächtnis der Ukrainer tief verankert sei. Sie werde durch den brutalen Angriffskrieg Russlands wiederbelebt.

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Zu den Zweifeln von Helmut Schmidt, ob "überhaupt eine ukrainische Nation" existiere sagt Kappeler: "Helmut Schmidt hat sich gründlich geirrt. Aber diese Äußerung verdeutlicht, wie verbreitet die russische Sichtweise auf die Ukraine selbst im Westen gewesen ist."
Ukrainische Unabhängigkeit: "Für Putin ist das ein Fall von Verrat. Denn das russische national-imperiale Narrativ duldet keine Abweichungen: Wenn die Ukraine nach Unabhängigkeit strebt, stellt sie sich in Putins Weltsicht gegen Russland und die sogenannte russische Welt."
"Die Geschichte Russlands und der Ukraine verlief über Jahrhunderte getrennt, ja. Ohne dieses Wissen lässt sich die heutige Konfliktlage schwer verstehen."
"Die Ukraine hat über polnische Vermittlung zahlreiche Einflüsse aus dem Westen erfahren – dazu gehören Renaissance und Humanismus, Reformation und Gegenreformation wie auch das deutsche Stadtrecht. Für Russland gilt dies nicht oder nur sehr eingeschränkt."
"Die Geschichte der Ukraine ist durch eine lange Staatslosigkeit geprägt. Deswegen ist es für sie überaus wichtig, einen mittelalterlichen Anknüpfungspunkt zu besitzen, eine Art Goldenes Zeitalter, auf das man sich berufen kann."
Es war "nicht Lenin, sondern es waren die Ukrainer, die nach dem Sturz des Zaren und der Machtergreifung der Bolschewiki im Januar 1918 in Kiew die unabhängige Ukrainische Volksrepublik ausriefen" – bekämpft von Roten Armee und konterrevolutionären "Weißen".
Stalin mißtraute der Ukraine und ergriff brutale Maßnahmen. "Die schlimmste war die absichtlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933, in der Ukraine Holodomor genannt, die circa 4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern das Leben kostete."
"Es ist diese ungeheure #Gewalterfahrung, die die Geschichte der Ukraine im 20. Jhd kennzeichnet." Mehr als 14 Mill. Ukrainer "starben zwischen 1914 und 1945 einen gewaltsam herbeigeführten Tod: im Russ. Bürgerkrieg, dem Holodomor, dem Stalinschen Terror & zwei Weltkriegen."
Der 2. WK "war für den westl. Teil der Sowjetunion mit ungeheuren Opfern verbunden. In der westlichen Betrachtungsweise des 2 WKs herrscht allerdings ein Denkfehler vor - und zwar die Vorstellung, dass lediglich die Russen die Befreier vom Nationalsozialismus gewesen seien."
"Tatsächlich aber kämpften Menschen zahlreicher Nationen der Sowjetunion gegen die Nationalsozialisten. Besonders den Ukrainern als zweitgrößte Nationalität kommt ein großes Verdienst am Ende des "Dritten Reichs" zu."
Zur Diffamierung der ukr. Regierung und Präsident Selenskyjs: "Das ist reine Propaganda. Selenskyj ist jüdischer Herkunft, drei seiner Verwandten sind im Holocaust ermordet worden. Sein Großvater hat in der Roten Armee gekämpft. Ebenso wie zahlreiche andere Ukrainer."
Zur histor. Wahrheit gehöre aber auch, "dass es im Westen des Landes national. Gruppen von Ukrainern gegeben hat, die mit den Deutschen zusammengearbeitet haben. Und sich auch am Holocaust beteiligten. Die ukr. Führung von heute deswegen als "Nazis" zu bezeichnen, ist absurd."
"Antisemitismus spielt heute in der Ukraine kaum eine Rolle."
Wahlen in #Ukraine führten "regelmäßig zu einer politischen Neuorientierung, ganz im Gegensatz zu Russland, wo Präs. Putin seit mehr als 20J an der Macht ist. Außerdem entwickelte sich eine lebendige Zivilgesellschaft, die massenhaft gegen politische Missstände demonstrierte."
"Das Manko an Staatlichkeit, das wiederum so lange die Ukraine geprägt hat, hat dagegen positive Auswirkungen. Vor allem in Form einer starken #Zivilgesellschaft, die sich dem Staat widersetzt und heute der russischen Aggression mutig entgegentritt."

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Feb 19
@marci_shore: "Wenn die Deutschen wirklich eine historische Schuld gegenüber den Russen empfinden, dann sollten sie den Ukrainern gerade jetzt die Waffen liefern, die sie brauchen. W. Putin wird sein eigenes Volk ausbluten lassen, bis er besiegt ist./1

zeit.de/2023/08/ukrain…
"Wohin soll dieser Krieg führen? Die realpolitische Fantasie, Teile der ukrainischen Bevölkerung unter russischer Besatzung zu belassen, ist nicht tragbarer als die Vorstellung, man hätte Teile der jüdischen Bevölkerung unter Nazi-Besatzung belassen können." /2
"Dabei geht es nicht um den Status der Größe. Die Politstrategen denken an ein Opfern von Land. Die Ukrainer wissen, dass Land Menschen bedeutet. O. Matwijtschuk, die 2022 für das von ihr geleitete Zentrum für bürgerliche Freiheiten mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde../3
Read 4 tweets
Feb 19
Die Dunkle Seite der Neutralität

Ein interessante Reflexion von Slavoj Žižek auf @ProSyn über Neutralität als Vorwand zur Unterstützung des russischen Imperialismus und darüber, dass ihre Verfechter an anderer Stelle meist nicht neutral urteilen.

1/14

prosyn.org/iNcKpL8
Žižek schreibt, Brasilien, Indien und Südafrika versuchten sich blockfrei zu geben, aber wie bei den westlichen "Pazifisten" komme die Blockfreiheit einer stillschweigenden Unterstützung des Imperialismus gleich./2
Žižek verweist auf Lulas unhaltbaren Vergleiche von Selenskyj mit Putin: "Ganz gleich, ob die Weigerung, sich für eine Seite zu entscheiden, aus Brasilien, Südafrika oder Indien kommt, die Behauptung, 'neutral' gegenüber Russlands Angriffskrieg zu sein, ist nicht haltbar." /3
Read 14 tweets
Feb 18
Der ukr. Journalist Denis Kazansky postet einen Text des russ. Feldkommandeurs A. Chodakowski der DNR, in dem dieser für Wuhledar die Taktik von Mariupol empfiehlt: Die ganze Stadt zerstören. #Wuhledar sei sowieso eine "nedogorod", eine minderwertige, missgeborene Nicht-Stadt. /1
Chodakowski schreibt oben: "Die Erfahrung der Kämpfe in #Mariupol zeigten, dass ein paar gut organisierte [russ.] Trupps ausreichen, um ein Bataillon zu stoppen. Der [ukr.] Feind mäht die [russ.] Sturmtruppen auf den Zufahrten mit Feuer nieder, deswegen...." /2
bestehe "der einzige Ausweg" darin, so Chodakowski, "die Gebäude mit allem, was bereit steht, niederzumachen". Diese "Nicht-Stadt Wuhledar" zeigt was man tun müsse: "Wenn wir #Wuhledar einnehmen wollen, haben wir keine andere Wahl, als alles niederzumachen, was im Wege steht."/3
Read 9 tweets
Feb 16
Russland zerstört ukrainische Kunst in Mariupol und raubt in Cherson ukrainische Museen aus, aber das Musée d'Orsay macht jetzt einen Abend zum Band "Russische Kunst des 19. Jahrhunderts denken", der eigentlich die Kunst des "Russländischen Reichs" meint. /1
Immerhin ist jemand wie Galia Ackerman beim Gespräch dabei, deswegen könnte es vielleicht auch ein Moment kunsthistorischer Selbstreflexion über vorschnelle Zuschreibungen werden. Die Ukrainer verweisen zurecht schon lange auf Ilja Repin, Nikolai Ge, Archip Kuindschi. /2
Der Begleittext macht aber nicht sehr viel Hoffnung, denn man will dass Russische der russischen Kunst über den Vergleich mit westlicher Kunst überprüfen: "An diesem Abend werden die Bilder, die jeder Russe von klein auf kennt, einer kritischen Überprüfung unterzogen." /3
Read 7 tweets
Feb 14
Habermas meinte 1990, die friedlichen Revolutionen holten die Osteuropäer in die Gegenwart Westeuropas. Er glaubt weiter an die Avantgarde des Westens bei Entscheidungen. Den Preis für westliche Fehlkalkulationen mit Russland zahlen aber Osteuropäer./1

sueddeutsche.de/projekte/artik…
Er hat offensichtlich 3 oder 4 Artikel der FAZ und SZ gelesen, die er zitiert, aber es bleibt ärgerlich und enttäuschend nach einem Jahr Krieg seinen neuen Artikel zu lesen. Er hat wohl keinen einzigen polnischen, ukrainischen oder finnischen Artikel gelesen. /2
Noch immer glaubt Habermas, es gibt eine selbstbezügliche Dynamik der Aufrüstung, als ob die Eskalation (Beschuss der ukr. Infrastruktur, Wellen an selbstmörderischen Wagner-Soldaten, russ. Mobilmachung...) nicht von Russland ausginge. /3
Read 10 tweets
Feb 14
Im besetzten #Melitopol droht man angeblich Eltern die Kinder wegzunehmen, wenn sie sich nicht in den Besatzungsschulen anmelden. Für die Anmeldung müssen sie dann die russ. Staatsbürgerschaft annehmen. 1/
khpg.org/en/1608811813
In Russlands selbst gibt es keine solchen Anforderungen bei Schulanmeldungen, d.h. die Bürger in den besetzten Gebieten sind Bürger 2. Klasse. Die erzwungene russische Staatsbürgerschaft dient auch dazu, die Männer dann zur Mobilmachung zu zwingen (wie im Donbas). /2
Auf der besetzten Krim gab es einen ähnlichen Prozess der Verpflichtung zur Russifizierung durch Pässe. Der Umstand, dass die meisten politischen Gefangenen russische Pässe annehmen mussten, hat die ukrainischen Bemühungen um Freilassung dort erschwert. /3
Read 6 tweets

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