1/ Ende der dunklen Tage in #Kiew? Regelmäßig heulen noch die Sirenen des Raketenalarms,aber seit etwa einem Monat gab es keine Raketen- oder Drohnenangriffe mehr auf die Energie-Infrastruktur von Kiew,deshalb kümmert sich kaum noch ein Bewohner der ukrainischen Hauptstadt darum
2/ Die Russen scheinen die Strategie, die Ukrainer auf diese Weise in die Knie zu zwingen, aufgegeben zu haben. Zeitlich fällt der Strategiewechsel mit einem anderen Ereignis zusammen: Sergej Surowikin, der Anfang Oktober das Kommando der russischen Streitkräfte in der Ukraine
3/ übernommen hatte, wurde am 11. Januar durch Walerij Gerassimow ersetzt. Offenbar war es Surowikin, der sich zum Ziel gesetzt hatte, zum Winteranfang mit Raketen und Drohnen die Energie-Infrastruktur der Ukraine zu zerstören – und so den Kampfeswillen der Ukrainer zu brechen.
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Um es kurz zu machen: Es hat nicht funktioniert. Es hat nicht funktioniert, weil die westlichen Partner Flugabwehrsysteme wie Iris-T geliefert haben (wenn auch reichlich spät), weil die Ukrainer sich mit Generatoren und Nachbarschaftshilfe
5/ auf die Stromausfälle eingestellt haben, und weil die Reparaturbrigaden rund um die Uhr daran gearbeitet haben, die attackierten Umspannwerke wieder in Gang zu bringen.
6/ Am Samstag hat der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko bekanntgegeben, dass es – vorausgesetzt, es kommt zu keinen neuen Raketenangriffen – keine Stromabschaltungen mehr geben wird, weil das Land genug Strom produziert und ihn auch verteilen kann.
7/ In den Aufzügen der Hochhäuser hängen noch „Notfalltaschen“ mit Essen (und ein Eimer) für jene,die im Lift steckenbleiben,über die Stadt verteilt stehen Wärmezelte,im Schewtschenko-Park sogar eine kasachische Jurte, benötigt werden sie nicht mehr. Die Bevölkerung atmet auf.
8/ Der Krieg scheint nun wieder weit weg zu sein: Bei den ukrainischen Stand-Up-Comedians in der Bar „Botschka“ am Samstagabend kommt er nur noch ganz am Rande vor. Das war vor zwei, drei Monaten noch ganz anders, erzählen die Barkeeper: Die Menschen wollten eben auch mal einen
9/ Abend ohne Erinnerung an den Krieg verbringen. Die Kehrseite der Medaille, wie die Barkeeper sagen: Natürlich sei, auch wenn er nun weit weg erscheint, an der Front der Krieg in vollem Gange. Jeder hier weiß, was in #Bachmut los ist.
10/ Dieses Nebeneinander der Wirklichkeiten zeigt ein Werbebanner am Platz der Unabhängigkeit: Es wechselt zwischen einem gelb-orangen „Supreme Meister Tschin Chaj: Meditationsmethode Guan In“ und einer Anzeige des Verteidigungsministeriums, das einen Soldaten zeigt:
11/ „Die Zukunft der Ukraine ist in Deinen Händen, beschütze das Deine“. Mit einer großen Kampagne versucht die Regierung derzeit, die Ukrainer zum Armeedienst zu motivieren.Die Lage ist schon anders als im letzten Frühjahr, als praktisch alle Landesteile vom russischen Einmarsch
12/ betroffen waren und die Motivation hoch war, sich freiwillig zur Armee zu melden. Die hohen Opferzahlen und die Begrenzung der Kämpfe auf die südlichen und östlichen Landesteile haben ihre Spuren hinterlassen.
13/ Theater, Kinos, Restaurants sind geöffnet, sogar der Kiewer Zirkus, auf seinem Gebäude ein Banner, das einen Dompteur mit einem Tiger zeigt, die Faust ausgestreckt, und die Aufschrift: Stand with Ukraine.
14/ Auch der hippe Techno-Club „K41“ (eine Art Ableger des Berliner Berghain) lädt wieder einmal die Woche zum Tanzen ein, allerdings nur von 14 bis 22 Uhr, weil noch immer die Sperrstunde von 23 bis 5 Uhr morgens gilt.
15/ Ja, beinahe könnte man den Krieg hier vergessen. Hier und da an den Straßenrand geschobene rostige Panzersperren erinnern an die ersten 2 Kriegsmonate des Kriegs, als die Russen an der Stadtgrenze standen und die Innenstadt voller Kontrollposten war.
16/ Eine ständige Erinnerung an den Krieg sind die Soldaten, die im Fronturlaub oder auf der Durchreise sind, in Uniform mit Frauen und Kindern durch die Stadt schlendern, hier und da mal einen Kaffee trinken. Eine kurze Verschnaufpause, bevor sie zurück an die Front müssen.
17/ „Was kommt nun?“ hat jemand mit weißer Farbe an einen Zaun geschrieben. 95 Prozent der Ukrainer, diese Zahl hat Zelenskyj in seiner Rede zum Jahrestag zitiert, glauben an den Sieg. Aber was bedeutet das genau? Und was ist von Russland zu erwarten?
18/ Was überlegen sich Putin und seine Generäle als Nächstes, um die Ukrainer in die Knie zu zwingen, nachdem die „Raketen-Strategie“ misslungen ist?
19/ Der Frühling lässt nun erstmal den Boden auftauen, was größere Operationen mit schwerem Gerät erschwert. Ende März, Anfang April wird der Boden wieder fest, dann ist mit einer ukrainischen Offensive zu rechnen.
Ein Update: Heute nacht gab es auf Kiew über 5 Stunden zwei Wellen von Angriffen mit Shahed-Drohnen, die aber laut Stadtverwaltung alle abgeschossen wurden. Ziel sei es aber vor allem gewesen, die ukrainische Raketenabwehr "aufzubrauchen." nv.ua/kyiv/u-kiyevi-…
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1/ Während sich in Berlin die Internationale der Putin-Freunde versammelt,treffe ich meinen Altersgenossen Ihor.Vor genau einem Jahr fuhr er mit mir im Zug Richtung Lwiw, brachte Frau und Kinder in Sicherheit (die jetzt in Frankfurt leben), seitdem kämpft er, zuletzt in #Bachmut.
2/ Nach einer Stunde habe ich einen Eindruck davon, was er durchgemacht hat: eigene Verletzungen, tote Kameraden. Ihor hegt keine Illusionen bezüglich der ukrainischen Verluste. Aber er weiß sehr genau, warum er bald mit seiner Einheit an die Front zurückkehrt.
3/ Dieser Kampf ist erst dann zu Ende, wenn die russischen Besatzer aus dem Land vertrieben sind und seine Frau und Kinder wieder ins Städtchen Smila zurückkehren können, ohne russische Angriffe fürchten zu müssen.
1/4 Im Gespräch mit einem Kiewer Freund an diesem Morgen ist mir klargeworden: Diese im letzten Jahr von Augstein/Welzer und anderen vertretene Haltung "Wir als Deutsche müssen uns raushalten aus Kriegen, weil unsere Großväter so Schlimmes verbrochen haben" ist die Begründung,
2/4 mit der ich 1999 (per Brief) den Kriegsdienst verweigert habe. "Ich bin traumatisiert und kann deshalb keine Waffe in die Hand nehmen, weil mein Großvater im 2. Weltkrieg gekämpft hat (und gefallen ist)." Was bei genauerem Hinsehen völlig konstruiert ist (natürlich bin ich
3/4 nicht traumatisiert deswegen), sich aber moralisch toll anhört. Wurde natürlich so akzeptiert. Ich glaube auch nicht, dass 1999 (anders als 1970, als sich Kriegsdienstverweigerer noch Mühe geben mussten) da noch jemand genau reingeschaut hat.
1/4 "Wir werden alles dafür tun, in diesem Jahr den Sieg zu erlangen." #Zelenskyj schwört sein Volk in seiner Ansprache zum Jahrestag des russischen Überfalls auf ein Jahr der Entscheidung ein, betont Maximalforderungen: Befreiung aller besetzten Gebiete. #Ukraine
2/4 Interessantes Detail: "So oder so werden wir all unsere Gebiete befreien." Kann so interpretiert werden, etwa im Hinblick auf die #Krim: Es muss nicht auf militärischem Weg erfolgen. (Wörtlich "So oder anders." Так чи інакше ми звільнимо всі наші землі.)
3/4 Das vergangene Jahr bezeichnet er als "wütendes Jahr der Unbezwingbarkeit."
1/ Auf dem Weg von Kriwij Rih Richtung #Cherson treffen wir in der Siedlung Shyroke, bis zuletzt Frontstadt, auf den 7jährigen Artjom Rjabtschikow, mit Mutter und Großmutter, der seit Mai täglich an der Straße steht und die vorbeifahrenden ukr. Soldaten (und alle anderen) grüßt.
2/ Der nächste Ort, kurz vor der Grenze zum Gebiet Cherson, ist praktisch unbeschädigt. Eine Studentin, die gerade Blumen am Haus ihrer Eltern pflanzt, sagt: Hier sind die Raketen immer nur drüber geflogen. An der Ausfahrt sieht man im Wald die früheren Positionen der Ukrainer.
3/ Etwa 3 km weiter die Positionen der Russen, die sie Mitte Juli verlassen haben: kilometerlanges System aus Schützengräben und Unterständen. Man versteht, warum es den Ukrainern so schwer gefallen ist, diese Positionen einzunehmen. Überall zerstörte Technik, PKW, Geschosse.
1/ Ich war heute im Dorf Zolota Balka, das die Ukrainer bei ihrer Gegenoffensive entlang des Dnjepr im Gebiet Cherson vor drei Tagen zurückerobert haben. Inzwischen liegt die Front deutlich hinter Dudtschany, etwa 30 km südlich von Zolota Balka.
2/ Von Zol. B. ist das andere Dnjepr-Ufer zu sehen, von dem aus russ. Armee in Richtung der ukr. Stellungen feuert. Von den Dorfbewohnern keine Berichte über russ. Verbrechen. Waren dort auch kaum präsent: Dorf seit 6 Monaten ohne Wasser/Strom, Russen suchten sich andere Dörfer.
3/ Auf den Straßen viel zerstörte russ. Militärtechnik/ mehrere Leichen russ. Soldaten. In Richtung Dudtschany laut Augenzeugen Dutzende zerstörte russ. Fahrzeuge, Zeugnisse des sehr schnellen ukr. Vorstoßes. Auch viel russ. Technik, die ins Hinterland transportiert wird.
🧵1/ Einige Erkenntnisse zum „Heißen Herbst“ nach knapp drei Wochen Recherchen in Ost und West: AfD, die Linke und Extremisten wie die Freien Sachsen versuchen aus unterschiedlichen Gründen, die anschwellende Welle zu reiten.
2/ Die Kalkulation der Linken: die eigene Existenz zu retten. Ein Blick auf das Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl zeigt, wie nah die Partei am politischen Exitus ist. Man hofft auf eine Wiederholung der Hartz-IV-Welle von 2004.
3/ Lautstark distanziert sich die Linke auf den Demos (etwa in Leipzig) von den Rechten, aber die meisten Forderungen, die von der Linken kommen, würden auch rechts Beifall bekommen: NS2 öffnen, Sicherheit in Europa nur mit, nicht gegen Russland, Amerika/NATO-Feindlichkeit,