Warum lösen die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ bei den Deutschen so viel Wut und Empörung aus?

Weil sie sich gegen ein zentrales Element der deutschen Kultur richten: das Auto.

Was sich daraus lernen lässt. Ein (kulturwissenschaftlicher) Thread. 1/15
Weiße Socken in Sandalen, Gartenzwerge vorm Haus, im Café getrennt bezahlen – es gibt viele Klischees vom „typischen Deutschen“. Doch was ist das eigentlich, „typisch deutsch”? Die Frage ist wie gemacht für die Ethnologie, die Wissenschaft der Kulturen der Welt. 2/15
Ethnolog:innen erforschen, was eine Kultur ausmacht: das System aus Werten und Traditionen, aus Tabus, Ritualen und Geboten, die eine Gesellschaft im Inneren zusammenhalten. In Deutschland zählt dazu: der Kult ums Auto. 3/15
Das klingt vielleicht erstmal verrückt. Rein rational ist ein Auto ja nicht mehr als eine Blechkiste auf Gummireifen, die uns von A nach B bringt. Doch rational ist wenig in Deutschland, wenn es um den Pkw geht. Im Gegenteil: Die Bindung zum Auto ist oft extrem emotional. 4/15
Das Auto prägt uns von Kleinauf, es schafft Identität, verleiht dem Einzelnen seinen Status in der Gemeinschaft und ist mit strengen Tabus belegt. Von der Geburt bis zum Tod – das Auto ist von Anfang an dabei, bis zum Ende, ein Leben lang. 5/15
Den ersten Weg, den ein Neugeborenes in Deutschland zurücklegt, fährt es in der Regel mit dem Auto – von der Geburtsklinik ins Elternhaus. Auch der letzte Weg eines Menschen, zum Friedhof, findet im Auto statt. Dazwischen dreht sich vieles in unserem Leben um den Pkw. 6/15 Ein schwarzer Bestattungswagen mit abgedeckten Fenstern.
Früh werden Kinder mit Spielzeug an den Kult herangeführt: Autos auf Bettdecken, Geschirr, T-Shirts, Taschen, Geburtstagskuchen. Mit 18 Jahren folgt die Initiation: die Führerscheinprüfung, für die Novizen wochenlang Verkehrsregeln pauken und viel, viel Geld zahlen. 7/15 Bettwäsche mit dem Ferrari-Logo.
Die Führerscheinprüfung zeigt alle Merkmale eines klassischen Initiationsrituals („rite de passage“), zB die Übergangsphase zwischen erfolgreicher Theorieprüfung und dem Praxistest. Wer den besteht, gehört dazu. Wer ein schönes Auto hat, „hat’s zu was gebracht“. 8/15
Ab da beginnt das Auto, das „Ich“ zu definieren. Deutsche fragen nicht „Wo ist dein Auto?“, sondern „Wo stehst du?“, als seien Wagen und Besitzer ein und dasselbe. Der gesellschaftliche Status hängt oft am Pkw: Je größer, schneller und teurer, desto höher das eigene Ansehen. 8/15
Der deutsche Auto-Kult nimmt viel Zeit, Ressourcen und Raum ein. Kreuzungen, Waschanlagen, Carports, Autobahnbrücken, Parkhäuser prägen das Bild des ganzen Landes. Keine Stadt ohne diese massiven Bauwerke, die ausschließlich dem Auto dienen. 9/15 Das Autobahnkreuz Kaarst in NRW in Form eines Kleeblatts zwi
Für andere sind diese Orte tabu. Würde man zB einen Campingtisch in eine Parklücke stellen, es gäbe sofort Zoff. Überhaupt das Tabu ums Auto: Die soziale Konvention in Deutschland schreibt eine besondere Behutsamkeit im Umgang mit dem Pkw vor, wie mit einem Kultobjekt eben. 10/15
Sich auf die Motorhaube eines fremden Wagens zu setzen oder nur ans Heck zu lehnen, wird vom Besitzer schnell als Affront gewertet. Eine der miesesten Nummern, die man abziehen kann: Jemandem zB nach einem Streit mutwillig den Autolack zu zerkratzen. Ein Sakrileg. 11/15
Man könnte ewig weitermachen mit dieser Aufzählung. Der Punkt ist: In unserer Gesellschaft gibt es einen Massenkult ums Auto, mit Millionen Anhängern. Gemäßigte mit gebrauchtem Nutzfahrzeug genau wie Fanatiker, die solche Sticker auf das Heck ihres Sportwagens kleben.👇12/15 Eine Figur hält einer anderen eine Pistole an den Kopf: „
In so einem kulturellen Umfeld lösen Blockaden des Berufsverkehrs natürlich heftige Reaktionen aus, sie treffen die Leistungsgesellschaft ins Mark. Und das tut weh, macht wütend. Das ist keine Wertung, nur eine Beobachtung – aber eine, aus der sich was lernen lässt. 13/15
Sie zeigt: Für eine echte „Mobilitätswende“ reichen Strukturreformen wie ÖPNV-Ausbau nicht aus. Nötig ist ein KULTURELLER Wandel. Der braucht viel Zeit – und damit mehr als nur eine „letzte“ Generation. Es wird also auf die künftigen Jahrgänge ankommen. 14/15
Damit die es schaffen, muss aber jetzt der richtige Weg eingeschlagen werden. Zielstrebig, effektiv und gut geplant – so wie es die Deutschen ja eigentlich ganz gut können. Oder ist das auch nur so ein Klischee vom „typischen Deutschen“? 15/15

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Aug 8, 2020
CN: #CancelCulture

Koloniale Denkmäler stürzen und Straßen umbennen - das verfälscht unsere Geschichte, behaupten Kritiker der „Cancel Culture“. Warum das totaler Quatsch ist, erkläre ich in diesem #Thread. 1/12
Zunächst ist es bei manchen Namen und Denkmälern Konsens, dass sie nicht in den öffentlichen Raum gehören. Nur komplett Verirrte würden wohl gerne in der „Hitlerstraße“ oder neben einer Stalin-Statue wohnen. 2/12
Doch auch eine Nummer kleiner kann es sinnvoll sein, eine historische Figur aus dem Stadtbild zu canceln - ohne dass es irgendjemanden stört. Beispiel: der Fall des berühmten BBC-Moderators Jimmy Savile. 3/12
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