Ich schätze @moritz_gathmann wirklich sehr, aber ich bin -als Ukrainerin- kein Fan von diesen Reiseberichten.

Wie sehr man es auch versucht, wenn man nicht betroffen ist, kann man den Krieg und was es mit einem macht, nicht begreifen.
Dieser Thread soll keine Kritik an dem Beitrag oder @moritz_gathmann sein, der seit 2014 über diesen Krieg berichtet. Dafür bin ich wirklich wirklich sehr dankbar!

Ich möchte diesen durch innengesellschaftliche Einblicke erweitern, die von Außen so vllt. nicht deutlich sind.
Dieser Thread ist deutlich länger geworden, als ich es vor hatte. Ich kann nicht mal auf + klicken und bin noch nicht mal fertig.

CN
auf ausnahmslos alles, was nach diesem Post kommt.
Die vermeintlich sorgungsfrei in Kyjiw etc. "Party" machen, haben einen Freund, Bruder, Vater, Onkel, der jetzt an der Front ist und den sie höchstwahrscheinlich nicht wiedersehen werden oder bereits verloren haben. Und das seit 9 Jahren!
Sie scrollen non stop durch russische Telegram Kanäle, die sich darauf aufgeilen wie viele "Ukry" sie heute getötet haben, in der Hoffnung die vermisste Person bestenfalls in Gefangenschaft, schlimmstenfalls in einem Hinrichtungsvideo zu sehen.
Nichts davon ist "sehr weit". Zusätzlich haben viele auch den Job, Wohnung, etc. verloren. Täglich unzählige Spendenaufrufe, wo trotz allem Tausende € gesammelt werden für eigene Freunde & Familie für Drohnen und Fahrzeuge, die nach 1 Woche wieder ersetzt werden müssen.
Wir öffnen Social Media und scrollen durch Memes, Ukrainer:innen öffnen Social Media und scrollen durch Todesanzeigen von Menschen, die sie kannten, oder die ihre Freunde kannten.
Viele haben Familienangehörige in besetzten/umkämpfen Regionen, die entweder die Stadt nicht verlassen wollten, oder deren Evakuierung nicht möglich war. Es gibt keinen Kontakt zu diesen Menschen, viele werden höchstwahrscheinlich immer als vermisst gelten.
Nicht wenige davon sind selber Geflüchtete aus der Ostukraine, die buchstäblich nichts mehr haben wohin sie überhaupt zurück kommen könnten, selbst wenn die Ukraine diese Gebiete zurück erobern soll.
Und das sind nur allgemeine Beispiele der Schicksale der Ukrainer:innen im Hinterland.

Dazu kommen andere Probleme. Vergewaltigte Frauen, Kindern, Männern. Beschreibungen dessen so brutal sind, dass es einfach unfassbar ist, wie Menschen so etwas jemanden antun können.
Nach Vergewaltigungen schwangere Frauen, denen es in Polen extrem erschwert wurde eine Abtreibung zu machen.

etc. etc. etc.
ALLE haben bereits oder werden mental health Probleme haben und eine Behandlung benötigen.

Das ist vor Ort übrigens sehr bewusst - es gibt unzählige Initiativen, die versuchen darauf aufmerksam zu machen, Stigma abzubauen und Menschen ermutigen sich tatsächlich Hilfe zu holen.
Es gibt soooo viele, die jetzt tatsächlich eine schwere Depression haben - man sieht sie bei so einer Durchreise nur nicht.

Was man sieht, sind Menschen die entweder aus letzter Kraft gegen die Depression ankämpfen, oder diese maskieren.
Egal ob in Deutschland oder der Ukraine - auch glücklich wirkende Menschen können depressiv sein! Ich garantiere euch, dass ihr mind. 1 Person kennt, die eine Depression hat/hatte, bei der ihr das nie vermutet hättet.
Und selbst wenn der ganze Techno-Club in Kyjiw voller Menschen ist, von denen tatsächlich jede:r glücklich ist - THANKS GOD!

Woher und warum kommt diese Erwartung nach öffentlich immer mehr leidenden Menschen?
Aber zurück zu mental health:

Es wird Druck auf die Politik ausgeübt viele Psychiater:innen auszubilden, den Zugang zur Therapie für alle zugänglich zu machen und diesen auch vor allem für Militärangehörige flächendeckend und möglichst verpflichtend zur Verfügung zu stellen.
Vermutlich kaum jmd. außer der #miltwitter bubble kann sich tatsächlich vorstellen, was die Menschen an der Front erleben.

Wir klatschen zu Drohnenvideos, in denen verpixelte Miniaturen ukrainischer Einheit russischen Schützengraben einnimmt.
CN
Was wir nicht sehen, dass beim Sturm der Buddy vielleicht getroffen wurde. Dass man das gegnerische MG mit einer Splittergranate ausschaltet und danach selber tagelang in diesem Graben sitzt - umgehen von Körperflüssigkeiten und Leichen.
In diesem Graben kannst du dann immer wieder nur hoffen, dass der Artilleriebeschuss dich zufälligerweise nicht trifft. Und jedes mal wenn du aus dem Graben raus schaust, siehst du nur ankommende Gegner, oder ihre Leichen.
First Responder, die unter gezieltem Beschuss die Verletzten und Leichen in das gleiche blutverschmierte Pick-Up laden oder sogar zurück lassen müssen weil ihre Bergung zu gefährlich wäre.
Sanis, die gezielt beschossen werden und Wunden teilweise mit Handylicht unter mehreren Decken nähen, um nicht entdeckt zu werden und Ärzte, die 24/7 im OP stehen.
Und dann gibts auch noch Gerichtsmediziner, oder die die es kurzerhand geworden sind. Menschen, die regelmäßig Leichen mit Folterspuren, abgetrennten Körperteilen, Vergewaltigung, Kriegsverbrechen dokumentieren.
All das, was man nur ein einem relativ kleinen Teil der Videos aus der Ukraine sieht, all das ist für diese Menschen Alltag.

Sie haben ausnahmslos alle PTSD. Sie alle brauchen dringend Hilfe.
Diese Menschen werden Hilfe brauchen später in den zivilen Alltag re-integriert zu werden. Eine Herausforderung, die bislang kein Land systematisch gelöst hat.

Die USA hat ein massives Problem damit. In der Ukraine betrifft das so viel mehr Menschen.
Mit diesem, bereits viel zu langem Thread, kratzen wir nur an der Oberfläche der innenpolitischen und innengesellschaftlichen Probleme.

Die Komplexität der Sorgen und Ängste vor Ort ist vielfaltig. Auch, weil die Menschen seit 9 Jahren an den Krieg "gewöhnt" sind.
Viele derjenigen, die freiwillig an die Front gingen, haben zum Beispiel sehr gut bezahlte Jobs aufgegeben, von denen sie als Alleinverdiener ihre Familien ernährten.
In der Armee erhalten sie viel weniger Geld, geben es ganz an die Familie ab und merken trotzdem, dass es manchmal nicht reicht. Es wird auch oft kritisiert, dass die Gehälter stark schwanken, je nachdem, an welchem Teil der Front man sich befindet.
Es gibt jetzt ein Gesetzentwurf für eingetragene Partnerschaft der queeren Paare, was von vielen Queers in der Armee gewünscht wurde - nur so darf der:die Partner:in Entscheidungen über medizinische Behandlungen treffen und auch das Recht auf finanzielle Unterstützung zu haben.
Ihr merkt schon, das "ruhige Hinterland" ist wider ersten Eindrucks, wie ein Teil der Logistik-Kette ein GUTES ZEICHEN für die Front.

Das "ruhige Hinterland" passt auf, dass im fog of war unbeliebte Entscheidungen nicht durchgelassen werden - was mehrmal versucht wurde.
Ich möchte euch von meinem ganzen Herzen nur bitten ein bisschen Vertrauen in die Ukrainer:innen zu haben. Wenn Menschen Technopartys und Schockotörtchen brauchen, um nicht durchzudrehen, heißt es nicht dass ihnen der Krieg egal ist oder es ihnen gut geht.

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