Ein wunderbare Rede von @Gospodinov68 zur Erinnerungspolitik in Europa. Er bezieht sich an vielen Stellen auf seinen Roman „Zeitzuflucht“, in dem der Zukunftsmangel dazu führt, dass man in Europa Referenden zur Lieblingsvergangenheit abhält.
🧵

faz.net/aktuell/feuill… #fplus
"Im Roman [Zeitzuflucht] soll jedes Land sein glücklichstes Jahrzehnt im zwanzigsten Jahrhundert wählen, was bei den einen erschwert wird, weil es viele glückliche Varianten gibt, bei anderen, weil es nicht eine einzige gibt." /2
Was würde R. wählen? "Die Antwort bekam die Welt am 24.2. In diesem unsichtbaren Vergangenheitsreferendum hat R. die Jahre des 2WK gewählt. Die Jahre, als es die Anerkennung der Welt hatte, die für eine Zeit sogar die Grausamkeit des Systems vergaß – Stalin, Gulag, Holodomor." /3
"Das Defizit an Zukunft erschließt immer riesige Vorkommen an Nostalgie. Heute erleben wir, wie die Vergangenheit den Kontinent regelrecht flutet. Die Zeit löst den Raum ab. /4
"Vielleicht müssten wir einen anderen Begriff wie etwa „Chronostalgie“ verwenden. In diesem Sinne sind unsere Kriege zu Kriegen um Vergangenheit geworden." /5
"Weil heute die Zukunft als Rohstoff aufgebraucht ist, versprechen Populisten und Na­tionalisten Vergangenheit. So ist erklärlich, warum Putin ausgerechnet an den An­fang der Vierzigerjahre zurückkehrt." /6
"Aber können auf einem Kontinent verschiedene Zeiten nebeneinander existieren? Nein. Und das nicht nur, weil das Glück einzelner Völker nicht auf dem Un­glück anderer beruhen kann. Sondern weil Vergangenheit kein individuelles Projekt ist. Man kann nicht allein in ihr leben."/7
"Das heutige Unglück und die Isoliertheit Russlands bringen es dazu, zurück in die „großen“ Zeiten der Sowjetunion hi­nabzusteigen. Aber dort ist es leer und öde, niemand ist mehr da. Man muss sich einen Feind ausdenken, eine Bedrohung konstruieren."/8
"Was Putin schließlich will, ist nicht, den Krieg zu gewinnen, sondern ihn zu chronifizieren, ein Leben unter diesen Bedingungen durchzusetzen." /9
"Wenn das Feuer der Erinnerung er­lischt, schließen die Ungeheuer der Vergangenheit den Kreis um uns: Je weniger Gedächtnis, desto mehr Vergangenheit. Wir erinnern uns, um die Vergangenheit in der Vergangenheit zu halten." /10
"Täuschung schreibt nicht nur die Vergangenheit um, sie bestimmt auch die Zukunft. Sie stützt sich auf eine umgeschriebene Vergangenheit, um die gegenwärtige Aggression und Niedertracht zu rechtfertigen." /11
"Das Zentrum Europas ist nichts Statisches, fest verankert in Berlin oder Paris, sondern ein beweg­licher Ort des Schmerzes. Es ist da, wo es wehtut und blutet, und heute befindet es sich im Osten, in der stolzen Ukraine."/12
"Natürlich träumten wir [in Bulgarien] von ganz anderen Staaten, vom Ausland westlich von uns. Darin liegt etwas Ge­rechtigkeit – die UdSSR wurde nie zum Sehnsuchtsort, aller Propaganda zum Trotz, sie blieb ein Ort der Ehrfurcht. Das spiegelt sich heute wider." /13
"Dieser Krieg wird nicht mit der letzten verschossenen Granate zu Ende sein. Er begann schon Jahre vor dem ersten Schuss & wird wohl Jahre nach dem letzten en­den. Auch hier hat die langsame, aber be­ständige Literatur eine Aufgabe [...]."/14

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Mar 25
@max_kidruk überlegte zu Beginn der russischen Invasion, für wen die 45.000 Leichensäcke bestimmt waren, die das russische Militär vor dem Angriff kaufte, da Moskau doch an einen kurzen, siegreichen Krieg glaubte?
Ü: 🧵
1/10
"Schon bald danach marschierten die Russen wie bei einer Militärparade in die Ukraine ein, planten die Einnahme Kyivs in drei Tagen und rechneten kaum mit nennenswerten Verlusten. Höchstens eineinhalb Tote." /1
"Der Gedanke an 45.000 Leichensäcke verursachte in meinem Kopf tagelang Dissonanzen. Ich verstand nicht, für wen sie bestimmt waren? Wenn die russ. Armee einen schnellen & siegreichen Krieg plante, wozu brauchte sie so viele Leichensäcke und mobile Krematorien an der Grenze?"/2
Read 12 tweets
Mar 22
Der russ. Nationalismus ist leider eine unterschätzte Einflussgröße der russ. Politik und das Manifest „Wort der Nation“ von 1970 ein recht unbekanntes national. Zeugnis der Sowjetzeit. Dabei lesen sich die Passagen zur Ukraine wie ein Programm des russ. Angriffskriegs.
🧵1/11
Die Russen werden in diesem nationalistischen Manifest zunächst als die eigentlich "benachteiligte" Nation der #Sowjetunion verstanden, obwohl sie die anderen "entwickeln". Belarussen und Ukrainer sind auch 1970 "Teil des russischen Volks" ohne Existenzrecht und ohne Sprache. /2
Die Sowjetukraine erhält den längsten Passus in diesem russ. nationalistischen Manifest: Eine Art geographische Karte der Angriffsziele von 2022. 1970 ging das ohne Nato, Einkreisung, Denazifizierung, Satanismus allein mit den Mythen des russ. Nationalismus und Russifizierung. /3
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Mar 19
Lina Kostenko (*19.3.1930)
Heute ist der Geburtstag der wichtigen ukrainischen Dichterin Lina #Kostenko, die mit ihren Gedichten das Leben der Ukrainer und Ukrainerinnen seit der Nachkriegszeit begleitet. Auch im Frühjahr 2022 hat sie Kyiv nicht verlassen.
Hier das obige Gedicht "Flügel" von Lina Kostenko vorgetragen von dem bekannten ukrainischen Schauspieler Bohdan Stupka (1941-2012). Seine Lesung dieses Gedichts ist schon lange ein YouTube-Hit in der Ukraine.
Es gibt zwei relativ neue Gedichtbände von Lina #Kostenko in deutscher Übersetzung bei Wieser in Klagenfurt. Die Herausgeber dieses Übersetzungsbandes sind Alla Paslawska und Alois Woldan. Der linke Band erschien 2022 zweisprachig Ukrainisch/Deutsch⬇️/3
Read 4 tweets
Mar 18
Heute vor 91 Jahren, am 18.3.1932, wurde der Schriftsteller Friedrich Gorenstein in Kyiv geboren. Er ist einer der wichtigsten russischsprachigen Schriftsteller der Ukraine, den man leider in Deutschland wenig kennt, obwohl er über 20 Jahre in Berlin lebte. 1/7
Sein Vater wurde im Gulag erschossen, seine Mutter rettet ihn durch Reisen, Verstecke und ein Pseudonym. Schon 1943 wurde er zur Waise. Er lebte in Berditschew, studierte auch in Dnipro und ging ab den 1960er Jahren für viele Jahre nach Moskau, ab 1980 lebte er in Berlin./2
Man hat #Gorenstein oft gefragt, ob er ein jüdischer, russischer, deutscher oder ukrainischer Schriftsteller sei. In einem Interview entgegnete einmal darauf, er sei einfach ein Spezialist für Russland und Deutschland./3
Read 7 tweets
Mar 15
@TimothyDSnyder entgegnet im UN-Sicherheitsrat dem russ. Vorwurf der "Russophobie":
-#Russophobie-Vorwurf als imperiale Propaganda, bei der Aggressor zum Opfer wird.
-Schädigung der russ. Kultur in erster Line eine Folge der Politik der RF, z.B. durch Erziehung zum Völkermord⬇️
Hier Timothy Snyders Punkt 10 zur 'kontinuierlichen Erziehung der Russen zum Völkermord [an den Ukrainern] als Normalität' durch Akteure und Staatsfernsehen im obigen Videoausschnitt in deutscher Übersetzung:/2 Image
T. Snyder teilt die Sorge um die russ. Kultur, betrachtet aber die Handlungen des letzten Jahres als das, was den Russen den größten Schaden zugefügt habe. 10 Unterpunkte:
1. Auswandern der kreativsten und produktivsten Russen.
2. Zerstörung des unabhängigen russ. Journalismus./2
Read 15 tweets
Mar 13
Die Oscarverleihung legt erneut unsere Klischee vom russischen Oppositionellen in Gefängnis, in der Verbannung oder Exil im ewigen Kampf gegen die russische Macht offen. Ein Personenkult löst den anderen ab. Imperiales Denken und Strukturen bleiben davon meist unberührt./1
Diese Fixierung auf Personen verdeckt erneut die eigentlichen Probleme des russisch-nationalistischen und imperialen Denkens, macht Strukturprobleme und nicht-russische Stimmen unsichtbar und fördert den Glauben, nur ein neuer starker Mann kann es in Russland richten./2
Unter den sich wiederholenden Fehleinschätzungen leiden Länder wie die Ukraine oder Georgien. Alle wünschen sich die Haftentlassung Nawalnys, aber seine früheren zustimmenden Aussagen und Haltungen zum russ. Nationalismus lassen sich durch die Haft nicht einfach wegwischen./3
Read 5 tweets

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