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Jun 7 14 tweets 3 min read Twitter logo Read on Twitter
Ich habe es an anderer Stelle schon gesagt und werde es auch an dieser Stelle gerne nochmal sagen:
Für die medizinethische Bewertung eines Eingriffs sind "Mehrheiten" (wie die zustande kommen sei dahin gestellt) zweitrangig.
Bezugnehmend auf den restlichen Inhalt des Beitrags:
Es gilt für Journalist_innen sich endlich mit der empfundenen "Notwendigkeit" einer "ausgewogenen" Darstellung "beider" Seiten auseinanderzusetzen. So gut der Beitrag in weiten Teilen ist, trägt auch er dazu bei, eine falsche Ausgewogenheit vorzuspiegeln. #falsebalance
Das sowie die Auseinandersetzung in Bezug auf Wording und Framing gehören zur journalistischen Sorgfaltspflicht und ich bin es Leid, das bei Themen, in denen es um sexuelle, reproduktive Gesundheit und Identität geht, die immer selben Muster auftreten.
Es führt zur Diskursverschiebung und nimmt das eigentliche Problem aus dem Fokus: das Versorgungsproblem. Ja, man kann in einem säkularen Staat gegen Abtreibung sein. Man kann sogar gg Abtreibung im Vergewaltigungsfall sein. Diese Meinungsfreiheit ändert aber nichts daran,
dass andere auf individueller, aber eben vor allem institutioneller Ebene zu anderen ethischen Schlüssen kommen. Und da herrscht ein klarer Konsens: Der Zugang zu medizinisch sicheren Abbrüchen muss diskriminierungsfrei möglich sein und entkriminalisiert werden.
Die Einwände der zitierten Abtreibungsgegner_innen sind für den dt. Rechtskontext hinfällig. Hierfür verweise ich darauf, dass man rechtlich qua Geburt als Person gilt sowie zur verfassungsrechtlichen Einschätzung auf den Beitrag von Prof. Lembke: 150jahre218.de/programm/
D.h. der Zugang muss sicher sein für Menschen, die a) aus gesundheitlichen Gründen eine Abtreibung brauchen, b) denen sexuelle u/ o psychische Gewalt angetan wurde, aus der eine ungewollte Schwangerschaft resultiert. Und dazu gehört c) in einem demokratischen Staat, dem es ein
Anliegen ist, Menschen nicht zu diskriminieren, die schwanger werden können, die Entscheidungsgewalt über ihre körperliche Integrität zuzugestehen - sprich Menschen, die aus anderen Gründen abtreiben wollen, diesen Zugang bspw. unter Einhaltung einer Frist ebenfalls
diskriminierungsfrei (!) zu gewähren. Selbst wenn wir nur a) und b) als gesamtgesellschaftlichen Konsens akzeptierten und die Diskriminierung aller anderen ungewollt Schwangeren (c) hinnähmen, müssten wir über die Gewährleistung der Versorgung reden.
Selbst unter dieser Prämisse wären für einen solchen Beitrag die Partikularinteressen einer radikalisierten religiösen Minderheit irrelevant, genauso wie die "Mehrheitsmeinung" einer Bevölkerung. Der Beitrag verliert die Gründe für die Versorgungssituation aus dem Blick
und damit das Kernproblem. Er straft sie mit zwei Halbsätzen ab – ja, Kriminalisierung und Stigmatisierung stellen Teile des Problems dar. Mit diesen Schlagworten kratzen wir aber nur an der Oberfläche eines strukturellen Problems. Die Stigmatisierung und Diskriminierung
hat eben System, gesamtgesellschaftlich aber als Spiegel der Gesellschaft auch in Bezug auf die med. Aus- und Weiterbildung sowie die (gynäkologische) Praxis. Wesentlich ist dabei, dass es eben nicht "nur" um Abtreibung geht, sondern um sexuelle und reproduktive Gesundheit
insgesamt. Da geht es auch um die Qualität des gyn. Managements von Fehl- und Totgeburt. Da geht es um die weiße Landkarte sexuelle Zufriedenheit/ Gesundheit von Patient_innen in der medizinischen (nicht nur gyn.!) Aus- und Weiterbildung. Da geht es um sexuelles Erleben,
Verhütung, Kontrazeption, Kinderwunsch, traumsensible Behandlung. Und was das angeht, hat unser Gesundheitswesen, insbesondere in Bezug auf intersektionale Diskriminierung großen Aufholbedarf.

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