Das, was uns aktuell als Rechtsrutsch um die Ohren fliegt, ist keine bloße Konjunkturerscheinung und lässt sich auch nicht mit ein paar Korrekturen (#Brandmauer) aufhalten. Es greift viel tiefer.
Ein Versuch: 1/15
Im Kern sehen wir possessiven Individualismus, rohe Bürgerlichkeit: Ich & meins zuerst. Dessen zahlreiche Vertreter*innen waren nie lehrbuchmäßige neoliberale Subjekte (egoistisch UND tolerant), sondern dachten immer chauvinistisch dazu: "...denn die anderen sinds nicht wert." 2/
Das konnte man aber eher beiläufig pflegen, während die Wachstumsgesellschaft solche aggressiven Impulse halbwegs kanalisierte - etwa in Statuskonsum.
Solange das bürgerl. Wohlstandsideal unter liberalen Verhältnissen für viele in D (!) gesichert schien, war man eben liberal. 3/
Für dieses sicher nie reibunglose, aber doch lange Zeit recht stabile Modell wird die Luft jetzt von zwei Seiten rapide dünner: 4/
a) Ökologische Grenzen werden spürbar. Es wird immer offensichtlicher, wie sehr westliche Mittelschichten auf Kosten Anderer leben (#ImperialeLebensweise) - und dass sie schon die Kapazitäten des Planeten sprengen, während Mittelschichten anderswo gerade erst rasant wachsen. 5/
b) "Ausgerechnet jetzt" wollen marginalisierte Gruppen endlich auch ihr Stück vom Kuchen - ökonomische wie soziale & kulturelle Anerkennung. Es "droht" die tatsächliche Verallgemeinerung offizieller liberaler Prinzipien, bei der Privilegien Mancher zu Freiheiten Aller würden. 6/
Die Vorstellung ist für die einstigen Liberalen, denen so relative und absolute Status- und Wohlstandsverluste drohen, zunehmend unerträglich und stürzt den Liberalismus in eine Repräsentationskrise. Alles nicht neu, aber nun dramatisch zugespitzt - als "Doppelzange". 7/
Reaktionen?
a) Aggressive Leugnung ökologischer Grenzen und Krisen. Was nicht wahr sein darf, kann nicht wahr sein. Verdrängung über Technikillusionen, Pseudowissenschaft, Wegsehen und ad-hominem-Attacken auf alle, die die Krisen benennen. 8/
b) Aggressive Abwehr der Teilhabeansprüche Marginalisierter mit allen Mitteln - Kulturkampf, "Gendergaga", Festung Europa, bedingungslose Unterstützung rassistischer Polizeigewalt, Aufrüstung usw. 9/
Jetzt, wo Privilegien bedroht sind, schlägt dieser Liberalismus also um ins Autoritäre oder gar Faschistische (wenn auch nicht als kollektivistische Ideologie). So finden neurechte Parteien Basis nicht primär bei "Abgehängten", sondern bei (subjektiv/obj.) Abstiegsbedrohten. 10/
An der Stelle deuten sich 1930er-Kontinuitäten schon an. "Entnazifizierung" später basierte stark auf selektivem Wohlstand & ökon. Sicherheit als zivilisatorischem Kitt.
Zugespitzt: Soweit man sich am Rest der Welt bedienen durfte, wurden militärische Überfälle verzichtbar. 11/
Die ökonomischen Privilegien dieses Liberalismus standen immer über den politisch-demokratischen oder kulturellen Freiheitswerten. Letztere werden also zuerst geopfert, wenn sie in Widerspruch zu den eigenen ökonomischen Interessen geraten.
Die Zivilisationsschicht war dünn. 12/
Die Risse darin lassen sich nicht durch ein bisschen "sachliche" Politik/Konsensorientierung/"Brandmauern"-per-Beschluss kitten. Sie kommen auch nicht "aus dem Internet".
Hier bricht ein ganzes polit-ökonomisches Gefüge auseinander, das schlicht nicht mehr haltbar ist. 13/
Da es gerade der Liberalismus der Konservativen ist, der erodiert, verschwimmen zwangsläufig Grenzen zwischen Konservativen + Rechtsradikalen.
"Brandmauern", die irgendeine Substanz haben sollen, würden Konservativen diesseits der Mauer eine seltene 180°-Wende abverlangen. 14/
Die heftigen Verdrängungsreaktionen, die die Krisen der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer einst stabilen ideologischen Ordnung gerade produzieren, lassen sich bestenfalls durch solidarische Konfrontation aufbrechen. Tut vielen weh, aber die Alternative ist: Barbarei. 15/15
P.S.: Natürlich ist das keine erschöpfende Erklärung & die Ursprünge dieses aggressiven Individualismus bleiben hier leider undiskutiert (es ist nur Twitter). Aber ich halte diese erschlagende Dynamik für relativ zentral in all dem, was gerade abgeht.
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Heute beginnt die #EuropeanGasConference 2023 in Wien. @block_gas startet Aktionen gegen die Lobbykonferenz - mit Unterstützung von Klimaaktivist*innen aus ganz Europa.
Warum der Widerstand? Und warum reden da auch noch alle von Wasserstoff?
Dass Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine diverse alte und neue Pläne für #LNG-Terminals aus der Schublade gezogen wurden, ist kein Zufall. Die jahrzehntelang immer weiter vertiefte Abhängigkeit von russischen Pipelinegasimporten ebensowenig. 2/
Nach intensivster Lobbyarbeit ist der Mythos "Brückentechnologie" für diesen hochgradig klimaschädlichen Energieträger heute weitgehend akzeptiert. EU-weit will die Gasindustrie (mit dt. Konzernen wie RWE, WintershallDea) neue fossile Infrastrukturen im Rekordtempo hochziehen. 3/
"Die Entscheidung gegen Lützerath ist doch CO2-neutral, weil der EU-Emissionshandel das eh alles zum Nullsummenspiel macht!"
Warum es so leicht nicht ist: 1/11
Richtig ist: Dank ETS funktioniert die einfache Rechnung "x t weniger Kohle = y t weniger CO2" nicht. Prinzipiell können die Zertifikate umverteilt werden, der CO2-Preis kann sinken, der direkte Klimaschutzeffekt einzelner (!) Maßnahmen zunichte gemacht werden. 2/11
Das ist aber eine extrem verkürzte Story. Die Marktstabilitätsreserve z.B. relativiert diesen Effekt, wenn viele Zertifikate frei werden.
Ich möchte dazu noch mal drei politische Punkte stark machen, die @PaoYuOei z.T. auch schon angerissen hat: 3/11
Sitz hier mit meinem Baby & sehe, wie in #Luetzerath testosteronüberladene Schlägertrupps aus 14 Bundesländern alle verprügeln, die sich verzweifelt dafür einsetzen, dass es für dieses Baby in Zukunft noch einen bewohnbaren Planeten gibt.
Shithole country.
Die Grünen, die Klimabewegung & die #Luetzerath-Räumung: ein Versuch, die politische Lage halbwegs nüchtern zu sortieren. 1/
Wenn wir jetzt mal die frühere Vorgeschichte (rot-grüne Leitentscheidung zu Garzweiler II etc.) weglassen: Anzuerkennen ist, dass das schwarz-rote Kohleausstiegsgesetz 2020 ein gigantisches Problem darstellt, für das die Grünen nicht verantwortlich sind. 2/
Auch in der Bewegung wird unterschätzt, wie die GroKo das Gesetz für die Ewigkeit gebaut hat, indem sie es parallel in Privatverträge mit den Kohlekonzernen goss. Letztere sind dadurch faktisch Vertragspartner eines Gesetzes (!), müssen sie betreffenden Änderungen zustimmen. 3/
Diese Inszenierung krönte das fossile Rollbackjahr 2022: Die drei Ampel-Musketiere trotzen der steifen Nordseebrise, um Deutschland heroisch vor Kälte, Dunkelheit und Putin zu retten - mit Flüssiggas.
Wie kam es dazu? Zeit für einen kleinen #LNG-Jahresrückblick 🧵 1/30
Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine schienen die Pläne für LNG-Terminals in Dtl. schon eingemottet: lohnt sich nicht mehr, zu teuer, klimapolitisch unpassend (Gasausstieg 2045 vorgesehen).
Die Vorgeschichte hat @GheorghiuAndy zusammengefasst: 2/ energytransition.org/2022/04/lng-te…
Durch den Krieg witterte die Gasindustrie plötzlich Morgenluft: Was folgt, ist ein Lehrbeispiel dafür, wie sich gut organisierte Kapitalinteressen in Krisenzeiten durchsetzen können - indem sie Fakten schaffen (lassen), bevor alle anderen Akteur*innen sich sammeln können. 3/
Die #CETA-Ratifizierung - ein Drama grüner Realpolitik in sechs Akten:
1. Grünes Wahlprogramm 2021 (S. 80): "Das CETA-
Abkommen werden wir deshalb in seiner jetzigen Fassung nicht ratifizieren. Wir werden so sicherstellen, dass die gefährlichen Investor-Staat- Schiedsgerichte nicht zur Anwendung kommen." cms.gruene.de/uploads/docume…
2. Koalitionsvertrag Ampel (S. 35): "Die Entscheidung
über die Ratifizierung des Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA) treffen wir nach
Abschluss der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht."