„Ich lebe lieber in Unfreiheit, als für Freiheit zu sterben“ – Philosophie oder Gerede?
Hier ist zwar kein guter Ort für das Philosophische Quartett. Dennoch hab ich mir die Freiheit einer Kritik dieses kontroversen Satzes von @nymoen_ole genommen. Ein🧵 in 4 Teilen:
1⃣ Nymoen nimmt eine individualistische Perspektive ein, die nur in einem Kontext relativer Autonomie sinnvoll erscheint. Aus philosophischer Sicht schwankt er zwischen pragmatischer Lebensbejahung und einem Verzicht auf das, was den Menschen ausmacht.
Der Satz spiegelt im Grunde diese Haltung wider: lieber eine eingeschränkte Existenz unter einem unterdrückenden Regime, als das Risiko des Todes im Kampf um Selbstbestimmtheit einzugehen.
Doch diese Sichtweise setzt voraus, dass eine Wahl zwischen Unfreiheit und Tod überhaupt besteht – eine Annahme, die in der Realität eines Angriffskrieges oder im Leben unter einem Terrorregime oft illusorisch ist. In ihnen ist Unfreiheit keine Wahl; Tod kein freiwilliges Opfer.
2⃣ Dies führt uns zu einem zentralen Punkt: der fehlenden Wahlfreiheit. Jean-Paul Sartre als Vertreter des Existenzialismus betonte, dass der Mensch zur Freiheit verdammt ist – eine Freiheit, die in der Verantwortung liegt, Entscheidungen zu treffen.
Doch in einem aufgezwungenen Angriffskrieg wird den Opfern diese existenzielle Freiheit genommen. Sie können weder wählen, in Unfreiheit zu leben, noch für Freiheit zu sterben – ihr Schicksal wird von den Aggressoren diktiert. Der Satz verliert hier seine Grundlage, denn er setzt eine Entscheidungssituation voraus, die für viele nicht existiert.
Eine Zivilistin, die durch russischen Raketenterror stirbt oder ein Kind, das nach Russland entführt wird, haben gerade nicht die Möglichkeit, zwischen Unfreiheit und Freiheit zu wählen. Ihre Unfreiheit ist keine bewusste Präferenz, sondern eine aufgezwungene Realität; ihr Tod kein Opfer, sondern eine Tragödie.
3⃣ Damit wird Nymoens Satz zu einem Privileg derer, die in relativer Sicherheit reflektieren können.
Hannah Arendt, die sich intensiv mit der Banalität des Bösen und politischer Freiheit auseinandersetzte, würde vielleicht argumentieren, dass schon die Bereitschaft, Freiheit aufzugeben, um zu überleben, die Grundlage für totalitäre Systeme schafft. Wer Unfreiheit akzeptiert, statt sie zu bekämpfen, trägt indirekt zur Macht der Unterdrücker bei. Arendt würde sicher die Ohnmacht der Opfer anerkennen – jener, die nicht wählen können, sondern zwischen Pest und Cholera gefangen sind.
Freiheit ist somit – entgegen Nymoens fehlerbehafteter Prämisse – kein ausschließlich individuelles, sondern immer auch ein kollektives Gut.
4⃣ Fazit: Eine Gemeinschaft, die sich kollektiv der Unfreiheit ergibt, opfert nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft. Die Opfer eines Angriffskrieges hingegen, die unfreiwillig sterben, werden zu Märtyrern einer Freiheit, die sie selbst nicht erleben können – ein paradoxes Erbe, das die Überlebenden in die Pflicht nimmt.
Genau dieser Verantwortung entzieht sich Nymoen unter dem Anschein einer tiefergehenden, gar philosophischen Reflektion. Bei genauerer Betrachtung lässt sich lediglich eine individuelle Haltung erkennen, die einem hedonistischen Zeitgeist seiner Generation entspringt.
Sie taugt aber nicht zum Prinzip einer universellen Maxime im Kantischen Sinne, da sie an der Realität derer scheitert, denen jede Entscheidung geraubt wurde. Und genau diese Menschen kann und will ich persönlich nicht so leichtfertig aufgeben, wie Nymoen es in letzter Konsequenz tut.
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Armin Laschet hat die Bedrohung, die Russland für ganz Europa darstellt, bis ins Jahr 2022 nicht ansatzweise verstanden und zahlreiche Fehleinschätzungen abgegeben. Wenn sich dieses Land noch selbst ernst nehmen will, kann er unmöglich neuer deutscher Außenminister werden.
So gehörte Laschet noch zu den allerletzten Verfechtern einer Inbetriebnahme der Ostsee-Pipelines im Jahr 2021, als die damalige US-Regierung bereits Sanktionen angedroht und die EU ihre Unterstützung für das Projekt längst aufgegeben hatte.
DW-Interview vom 14. Juni 2021:
Laschet verwies oft – und selbstverständlich zurecht – auf das Völkerrecht. Seine Liebe ging jedoch nicht so weit, es hochzuhalten, als es darauf ankam: Nach der Invasion und Annexion der Krim 2014 bemängelte er stattdessen einen "Anti-Putin-Populismus" und warb um Verständnis.
1⃣ „Nord Stream: Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt“
Heute erscheint „Nord Stream: Wie Deutschland Putins Krieg bezahlt“ von Steffen Dobbert (@steffendobbert) und Ulrich Thiele (@Ul_thi).
Warum ich dieses Werk, das ich vorab lesen durfte, schon jetzt für eines der wichtigsten politischen Sachbücher des Jahres halte? Meine Rezension im 🧵:
2⃣ Von strategischer Korruption und „nützlichen Idioten“
„Nord Stream“ beginnt in den frühen Jahren von Wladimir Putins Präsidentschaft. Schon bald nach seiner Machtübernahme macht er sich daran, die Saat der strategischen Korruption über Europa auszustreuen. Sie wird ihm noch viele Jahre später eine reiche Ernte einbringen.
Gerhard Schröder legt sich in den letzten Tagen seiner Kanzlerschaft für Nord Stream 1 ins Zeug. Wenige Wochen später wechselt er als Premium-Lobbyist mit prallem Telefonbuch in den Dienst von Gazprom.
Im TV läuft zur besten Sendezeit Hubert Seipels Wohlfühl-PR-Film „Ich, Putin – Ein Porträt“. Dass der NDR-Journalist sich für sein Machwerk vom Kreml und dessen Strohmännern hat üppig bezahlen lassen, wird die Öffentlichkeit freilich erst viele Jahre später erfahren.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier – im Selbstverständnis Wunder-Diplomat – arbeitet nicht nur an Minsk I und II, sondern auch am innigen Vertrauensverhältnis zu seinem Moskauer Pendant Sergei Lawrow. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, integraler Bestandteil der Hannover- und Moskau-Connection, verschachert mit dem strategischen Weitblick eines Maulwurfs deutsche Gasspeicher. Peter Altmaier jubelt: „Gas ist sexy.“
Sie alle werden zu Putins „nützlichen Idioten“. Die offenen Aggressionen des Kreml-Machthabers gegen die Ukraine und seine bereits vollzogene völkerrechtswidrige Invasion und Annexion der Krim scheinen in Berlin unterdessen niemanden zu stören. Entweder entgeht den Verantwortlichen, dass Putin und sein Gazprom-Imperium schon lange mit Erdgas als politischer Waffe auf die Ukraine und den Rest Europas zielen. Oder es ist ihnen gleichgültig. Oder es nützt ihnen.
3⃣ MV als „Vorposten des Kreml“
Doch all das verkommt beinahe zur Randnotiz angesichts der von den Autoren sehr genau rekonstruierten Vorgänge, die sich in Mecklenburg-Vorpommern abspielen.
Matthias Warnig und sein Netzwerk aus ehemaligen Stasi-Spitzeln führen die Geschäfte im Firmenkonstrukt der Pipelines. Die Manager gehen in der Schweriner Staatskanzlei, in Landesministerien und untergeordneten Behörden jahrelang ein und aus. Ihr Geschäftsgebaren erinnert zuweilen an eine Mafia-Organisation. Von oberster politischer Ebene erhalten sie Flankenschutz.
Ministerpräsident Erwin Sellering organisiert mit überbordendem Tatendrang die ersten Russlandtage und weitere Lobbyveranstaltungen. Direktkontakte in Putins St. Petersburger Milieu sind ihm wichtig. Die Realisierung der Pipeline-Projekte wird zielstrebig vorangetrieben, unliebsame Gesetzesvorgaben zu Betriebssicherheit und Umweltschutz werden ausgehebelt. Dabei zeigen etliche Regierungsvertreter und Behördenmitarbeiter ungewöhnliche Kreativität. In Berlin entsteht die Sprachregelung eines „rein privatwirtschaftlichen Projekts“.
Manuela Schwesig, die das Amt der Landesfürstin von Mecklenburg-Vorpommern als Sprungbrett zur Kanzlerschaft ansieht, übernimmt 2017 das von ihrem Vorgänger über den Pipelines konstruierte Lügen- und Korruptionsgebäude. Es ist auf einem Sumpf errichtet, dennoch fast schlüsselfertig. Lediglich lästige Sanktionsandrohungen aus Washington stehen der Fertigstellung noch im Weg. Um US-Sanktionen zu entgehen, wird mit einiger krimineller Energie die berüchtigte Klimastiftung ins Leben gerufen.
Die provinziellen Ereignisse gipfeln in einer Groteske, die einer der Autoren bereits vor einiger Zeit durch investigative Recherchen aufgedeckt hat: Eine Finanzbeamtin lässt eine Steuererklärung der Stiftung im Kaminfeuer verschwinden.
Doch die Geschichte macht Schwesig und der Vollendung von Nord Stream 2 einen Strich durch die Rechnung. Putins Großangriff auf die Ukraine beginnt. Kurz darauf erleuchtet das Schweriner Schloss in blau und gelb…
Ist Jakob Augstein als Verleger von „der Freitag“ Baustein einer russischen Desinformationskampagne? Ein 🧵 in 11 Teilen.
1⃣ Am 12.08.2024 veröffentliche das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz eine Analyse über eine russische Desinformationskampagne mit dem Namen „Doppelgänger“.
Die Verfassungsschützer stellen fest: „Die groß angelegte Kampagne verfolgt das Ziel, durch die Verbreitung bewusster Falschinformation und pro-russischer Narrative in westlichen Gesellschaften Zweifel an liberalen demokratischen Werten zu säen. Mit Blick auf Deutschland werden gezielt die Grundfesten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Frage gestellt.“
2⃣ Neben gefälschten Webseiten bekannter Medien listet der Bericht „Webseiten, die Nachrichten passend zum russischen Narrativ verbreiten“ und „von Doppelgänger genutzt werden“.
In einer Reihe mit den Online-Portalen von publizistischen Erzeugnissen zweifelhaften Rufs wie Nachdenkseiten, der Berliner Zeitung und Weltwoche taucht die Webseite Freitag . de auf.
3⃣ Freitag . de ist das Online-Portal von „der Freitag“, einer Wochenzeitung, deren Verleger seit 2008 Jakob Augstein ist. Von 2013 bis 2022 war er - mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 2017 - auch Chefredakteur. Von 2017 bis 2018 fungierte Jürgen Todenhöfer als Herausgeber.