Raphael Knipping Profile picture
Freier Journalist. Arbeitet zu Politik, sozialen Bewegungen, Migration und Klimakrise. Teil von @freelance_under

Sep 29, 2021, 28 tweets

23% der Erstwähler*innen haben bei der #btw21 die #FDP gewählt. Nachdem jetzt die erste Verwunderung und Aufregung verflogen ist, möchte ich mit diesem ausführlicheren Thread einen Erklärungsversuch wagen:

Die Zahl der Erstwähler*innen betrug bei dieser #Bundestagswahl etwa 2,8 Millionen. Wählen durften alle mit deutschem Pass, die seit der Bundestagswahl 2017 volljährig geworden sind. Sie zählen damit zur Generation Z, welche die Jahrgänge von ca. 1997 bis 2010 umfasst.

Zunächst wollen wir uns anschauen, welche Plattformen die Generation Z am meisten nutzt. Kaum überraschend: Am beliebtesten unter jungen Menschen ist YouTube, Instagram und TikTok. Facebook ist bei der Nutzung mittlerweile weit abgeschlagen im Vergleich zur Generation Y.

Während der Abstieg bei Facebook schon seit längerem absehbar ist, verliert seit diesem Jahr auch Instagram Marktanteil bei Teenagern. Zulauf bekommen vor allem TikTok und beschleunigt durch die langweilige Lockdownzeit auch die Streamingplattform Twitch.

Zunächst wollen wir auf Twitch eingehen: Die drei beliebtesten deutschsprachigen Twitchstreamer sind MontanaBlack, Trymacs und Knossi. Zusammen mit ihren Youtubekanälen erreichen die Entertainer ein Millionenpublikum aus vorwiegend jungen Menschen.

MontanaBlack der erfolgreichste deutsche Gamingstreamer war mehrere Jahre lang von Marihuana, Alkohol und Kokain abhängig. Er überwand seine Sucht und wurde Webvideoproduzent und Twitchstreamer. Er hat ein Buch mit dem Titel: „Vom Junkie zum YouTuber“ geschrieben.

Im Jahr 2019, laut eigenen Angaben sein erfolgreichstes Jahr, hat er einen Bruttoumsatz von über 3 Millionen Euro gemacht. Mit seinem Aufstieg repräsentiert er die Einstellung, jeder, der sich nur hart genug anstrenge, könne es auch schaffen. So er ist er Vorbild für viele.

Anfang des Jahres sagte „Monte“ in einem seiner Streams, die Grünen seien für ihn „einfach nur Schmutz“. Er hatte immer wieder Probleme mit Finanzbehörden und Steuernachzahlungen. Er spricht diese Themen offen an und beschwert sich häufig über zu hohe Steuersätze.

Einige deutsche Twitchstreamer sind aus steuerlichen Gründen bereits ausgewandert. Im Frühjahr diesen Jahres überlegt auch Monte auszuwandern. Der junge Liberale und Marktradikale Benedikt Brechtken würde das begrüßen:

Monte geriet öfter für nicht ausreichend gekennzeichnete Werbung für Online-Casinos in die Kritik. Es folgte eine Hausdurchsuchung 2019.
Das Verfahren wegen illegalen Glücksspiels wurde gg Zahlung eingestellt. Er wurde wegen Steuerhinterziehung zu 40.000€ Geldstrafe verurteilt.

Der zweitgrößte Twitchstreamer "Trymacs" legte dieses Jahr einen rasanten Aufstieg hin. Er erregte Aufmerksamkeit, weil er nach eigenen Angaben über hunderttausend Euro für Pokémonkarten ausgab und bereits mehrere zehntausend Euro für FIFA ausgegeben hat.

Der 26-Jährige fährt einen vollelektrischen Porsche Taycan Turbo S mit 761PS. In seinen Streams präsentierte er auch schon seine Rolex-Armbanduhr für 60.000€. Kurz gefasst: Self-made Aufstieg und Statussymbole pur, live präsentiert für hunderttausende junge Zuschauer*innen.

Trymacs beantwortete kurz vor der #Bundestagswahl den Wahl-O-Maten. Seine Antworten und seine anschließende Analyse ist sehr sehenswert, denn sie erklären schlüssig, warum man als 26-Jähriger (vermutlich) FDP wählt: „Ich bin übel für den Klimaschutz aber die Grünen sind so links“

Bei Twitch wächst eine ganze Generation von Gamer*innen mit Vorbildern auf, welche Glücksspiel verherrlichen, für Aktien- und Cryptohandel werben oder mit Statussymbolen prahlen. Zusammen mit dem Aufstiegsversprechen, erscheint es für einige logisch, dann auch FDP zu wählen.

Nun zu TikTok: Die FDP ist auf der Plattform recht gut vertreten. Einige Parteimitglieder haben mehrere zehntausend Follower und habe auch schon virale Videos erzeugt. Christian Lindner hat keinen eigenen Account.
netzpolitik.org/2021/bundestag…

Viel wichtiger ist: Die FDP und insbesondere Christian Lindner haben es verstanden, Memes zu generieren und für sich zu nutzen. Mit der Nutzung von Jugendsprache erzeugt Lindner Augenhöhe. Er zeigt, dass er den jungen Menschen zuhört und sich selbst nicht zu ernst nimmt.

Außerdem erreichen die FDP durch eine BWL, Aktien und Crypto-Bubble eine viel größere Reichweite als mit eigenen Accounts. In dieser Bubble werden etwa Fernsehauftritte oder Interviews von Lindner hochgeladen. Die Fangemeinde verbreitet die Parteiwerbung quasi von selbst.

Auf Instagram hat sich ein ganzes Netzwerk aus Pro-FDP Meme-Seiten gebildet. Sie heißen z.B. papas.kreditkarte, drugsandstocks, bwlmemez oder deutscher_jungadel. Es gibt sogar eine neoliberale.aktion:

Weitere FDP-Memes auf Instagram:

Für die Meme-Accounts bwl_justus, hedgefonds.henning und bwl_marie_1999 war sich Christian Lindner nicht zu schade sogar ein persönliches Grußvideo aufzunehmen, welches bei Instagram über 360 Tsd. Aufrufe hat.

Ein Beispiel, wie die FDP auch selbst Memes erstellt, liefert der Vorsitzende der FDP-Bayern und MdB Daniel Föst ebenfalls auf Instagram:

Sowohl der Account der FDP als auch der von Christian Lindner liegt gemessen an der Zahl der Follower*innen bei Instagram auf Platz 4 von allen Parteien. Oben dabei, aber erklärt alleine nicht ihren Ruf als Digitalpartei.

Ihr Umgang mit einer jungen und digitalaffinen Zielgruppe und Themen wie Steuererleichterungen, kein Tempolimit, Klimaschutz durch Innovation, Aktien- und Cryptohandel und Cannabislegalisierung scheinen der Schlüssel zu sein. Dieses TikTok Video zum Wahlprogramm hat 1,3M Aufrufe:

Ein Viertel der Erstwähler*innen glaubt weiterhin an finanziellen Aufstieg. Sie profitieren von Erbschaften, dem Aktien- und Cryptoboom und einer guten Wirtschaftslage. Klimaschutz ist vielen von ihnen wichtig, allerdings nicht, wenn damit persönlicher Verzicht einhergeht.

Das ist per se nicht verwerflich, schließlich werden Konsum und Materialismus heute bereits seit der Kindheit vorgelebt. Viele kennen es nicht anders. Frei nach dem Motto: Papa/Influencer/Streamer XY etc. ist reich geworden, also will ich auch reich werden.

Die FDP wirbt mit einem positiven Ausblick auf die Zukunft und der Wahrung der persönlichen Freiheit. Einem gewissen Teil von jungen Menschen ist das „Klimathema“ zu viel. Sie fühlen sich bevormundet oder sogar angegriffen, weil sie weiter Auto fahren oder Fleisch essen wollen.

Hinzu kommt: Auf allen Plattformen wurde massiv mit Ängsten gegen die Grünen mobil gemacht. Wenn Grüne für Tempolimit und Verbrennerverbot stehen, die CDU für Korruption, die SPD für gar nichts und die Linke einem suspekt ist, dann wählt man eben FDP.

Übrigens: Bei meinen Beobachtungen und Gesprächen hat sich kaum ein junger Mensch für die FDP ausgesprochen, weil sie für Freiheit in der Pandemie stand. Sie bot für viele traditionell eher Konservative thematische Überschneidungen und schien als das geringste Übel. Thread Ende.

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