Rabbi Levi Israel Ufferfilge Profile picture
Aug 23, 2019 20 tweets 4 min read Read on X
Dienstag. Ich flüchte mich vor dem Regen in die nächste Tram. Meine Hose ist durchnässt, aber Regenjacke und -schuhe helfen dem Rest, trocken zu bleiben. Ich setze mich ganz hinten in den verwaisten Sitzbereich. Der Boden ist seicht unter Wasser, alles fühlt sich klamm, schwül…
…und vorherbstlich an: die Polsterung, die Stangen zum Festhalten, die Fensterscheiben, die Luft.

An der nächsten Haltestelle steigt ein Mann dazu und stellt sich telefonierend vor den Sitzbereich, den ich gewählt habe.
Er zieht eine wie ein Schwamm vollgesogene Mütze ab und lässt sie auf den Boden klatschen. Das erinnert mich daran, meine Kapuze abzusetzen.

Der Blick des Mannes fällt auf meine zur Regenjacke passenden grünen Kippah. Er würgt seinen Gesprächspartner am Hörer ab und legt auf.
Er setzt sich mir breitbeinig gegenüber.

Er: "Ich wusste direkt, dass du ein Jude bist."
Ich muss überlegen, wann ich zuletzt einem solchen Gesprächsauftakt. Angenehm lang her. Sicherlich zwei Monate. Vielleicht ein neuer Rekord.
Es war hier in München aber auch ständig so heiß, dass ich quasi nur noch einen Strohhut über meiner Kippah getragen hatte. Good times.
Ich nehme die Kopfhörer aus den Ohren. Man möchte ja nicht unhöflich erscheinen.
Ich: "Haben Sie das?
Woran?"
Er: "An deinem Körperbau und deinen Fingern. Du hast auch sehr jüdische Augen. Und du hast so'ne teure Jacke an."
Ich: "Kennen Sie Drake, den Rapper?"
Er: "Ja, klar."
Ich: "Der ist auch jüdisch."
Er: "Trägt er auch so teure Regenjacken wie du?"
Ich: "Keine Ahnung."
Ich stecke meine Kopfhörer zurück in die Ohren und schaue zur Seite. Der Typ winkt daraufhin mit seiner Hand direkt vor meinem Gesicht herum.
Er: "Ey, ich war noch nicht fertig!
Woher hast du dir Jacke?"
Ich: "Schweden. Äh, aus dem Internet."
Ich stehe auf und gehe zur Tür. Die Alarmglocken läuten zu laut.
Er folgt mir.
Er: "Kann ich deine Jacke mal anprobieren?"
Dazu wäre er etwa drei Kleidergrößen zu groß.
Ich: "Nein, ich muss die Nächste raus."
Um ihn abzuschütteln. Es würden eigentlich sechs Stationen fehlen. Lieber zurück in den Regen. Aber warum muss das sein?
Ich hatte den ganzen Tag über Bauchschmerzen, war dann beim Arzt für eine Impfauffrischung (Tetanus und Co; man weiß als Lehrer ja nie). Und jetzt das. Und das dann wieder anderen erzählen müssen. Die Sorgen, der Ärger der anderen.
Ich will einfach bloß schnell nach Hause und mich aufs Sofa und den Welpen als Wärmflasche auf meinen Bauch legen. Ich glaube, am Abend kommen noch Freunde zu Besuch.
Ich hab keine Lust hiervon zu erzählen und davon, wie ich noch einmal aussteigen und erneut im Regen warten musste. Sowas von gar keine Lust.
Ich bleibe.
Ich: "Ich muss doch erst später heraus."
Er: "Dann gib mir jetzt deine Jacke."
Ich: "Nein.
Es heißt 'Könnten Sie mir bitte Ihre Jacke geben?' und nein. Ich gebe Ihnen meine Jacke nicht."
Er: "Ich will doch deine Jacke nur mal kurz haben, Jude. Warum darf ich das nicht? Du kannst dir doch eine neue kaufen."
Ich: "Duzen Sie mich nicht. Das ist vulgär."
Ich werde jetzt immer lauter, weil ich keinen Nerv mehr habe.
Ich: "Und sprechen Sie mich nicht so an. Sprechen Sie mich gar nicht an! Wollen Sie mich nur blöd anmachen oder WOLLEN SIE MICH ETWA BESTEHLEN, WEIL ICH JUDE BIN?!"
Vier Leute schauen nun zu ihm und mir herüber.
Er: "Ganz ruhig, ey. Ich kann sonst auch laut werden."
Ich: "STEHLEN WOLLEN, NUR WEIL ICH JUDE BIN! SO SO! WEIL ICH JUDE BIN! ICH FASSE ES NICHT! VERSUCHTER DIEBSTAHL!
LASSEN SIE MICH ENDLICH IN RUHE!"
Er: "Jetzt halt's Maul, du scheiß Jude!"
Ich: "ICH WERDE NUR IMMER LAUTER, WEIL ICH WÜTEND BIN UND KEINER ETWAS MACHT!"
Ein Mann, der die ganze Zeit über zugesehen hatte, steht auf, fragt was los ist.
Und sagt dann dem creepy Typ auf Englisch, er solle bei der nächsten Station aussteigen. Das macht der Typ sogar. Der anglophone Mann stellt sich als Kanadier vor. Ohne Vornamen. Natürlich mischt sich von allen Menschen ein Kanadier ein.
Es sollte mehr davon in deutschen Straßenbahnen geben.
Der Kanadier: "Are you alright?"
Ich: "I'm tired and I just... I have no more f**ks to give. Pardon me."
Der Kanadier: "I heard. And I'm so sorry, man."
Ich: "Thank you."
And thank you Canada! O Canada!
Our home and native land...! Ach, in Kanada müsste man leben.

Schabbat Schalom.

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