Ich bin sehr gespannt, wie sich die Corona-Krise nachträglich in der Kriminalitätsstatistik darstellen wird. Wenn ich derzeit unterwegs bin und eine erhöhte Polizei-Präsenz in Parks &c. feststelle, denke ich oft an das sogenannte Lüchow-Dannenberg-Syndrom.
[Langthread, sorry]
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Das Lüchow-Dannenberg-Syndrom beschreibt einen Scheinzusammenhang zwischen Polizeipräsenz und Kriminalität. Der beobachtete Befund: Dort, wo Polizeipräsenz zunimmt, steigt auch die Kriminalität.
Man könnte daraus fälschlich ableiten, dass die Anwesenheit von Polizei Kriminalität befördert oder erst provoziert. Tatsächlich bedeutet es aber zunächst nur, das mehr Polizeikräfte mehr Kriminalität feststellen.
Das /kann/ bedeuten, dass durch mehr Polizei mehr Kriminalität entdeckt wird und weniger Kriminalität unentdeckt bleibt, dass also das sog. Dunkelfeld verkleinert wird. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch nicht falsch.
Tatsächlich ist dieser Effekt aber viel interessanter. Er ist nach dem Landkreis Lüchow-Dannenberg benannt, wo die örtliche Polizeipräsenz in den 80er Jahren im Zuge der massiven Proteste gegen Atommülllagerung deutlich verstärkt wurde, obwohl die Region eher dünn besiedelt ist.
Die meiste Zeit des Jahres, wenn nicht demonstriert wurde, war die Region also over-policed. Und nun fuhren gelangweilte Polizeikräfte umher und taten Dienst, kontrollierten, ahndeten und zeigten an. Das Ergebnis: Deliktszahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik nahmen zu.
Das ist der sogenannte Lüchow-Dannenberg-Effekt: Ohne ersichtlichen Grund steigt (scheinbar) die Kriminalität in einem nahezu menschenleeren Landstrich an (ich kenne die Gegend etwas, meine Großeltern sind mehr oder weniger nebenan gestrandet).
Aber: Die Kriminalstatistik ist nur eine Tatverdächtigenstatistik der Polizei. Wenn Dich die Polizei wegen eines (vermeintlichen) Delikts anzeigt, wirst Du Teil der Statistik. Wenn die Beschuldigung Unsinn war und ein Gericht Dich freispricht, fällst Du aber nicht wieder heraus.
Falls die Polizei also vermehrt Bagatellfälle und Scheindelikte zur Anzeige bringt, weil sonst wenig zu tun ist, die Staatsanwaltschaft die Verfahren aber reihenweise wieder einstellt und erst gar nicht vor Gericht bringt, steigt, statistisch gesehen, dennoch die Kriminalität.
Autobiographischer Exkurs: Ich habe die berühmten Chaostage 1995 buchstäblich vor meiner Haustür miterlebt — und das Jahr danach, als angekündigt worden war, Hannover «in Schutt und Asche zu legen» (Spitzen-Prank!). Die Nordstadt war voller Polizei aus allen Teilen des Landes.
Jede Sraßenecke war gesichert. Allein unter meinem Balkon (Ecke Im Moore/Asternstraße) parkten zeitweilig drei Wannen. Aber: Sonst war niemand auf den Straßen, nur ein paar Anwohner*innen. Die Nordstadt war wie ausgestorben (wie gesagt: Spitzen-Prank!).
Polizeikräfte langweilten sich zu Tode, legten ihre Kampfanzüge ab und sonnten sich. Aber: Jede*r Passant*in, der/die vorbeikam, wurde kontrolliert, selbst Rentnerinnen mit Einkaufstrolleys. Beschäftigungstherapie.
Jedes Fahrrad wurde von drei Polizisten auf Verkehrstauglichkeit überprüft. Mein Nachbar, der Alt-68er-Provokateur, fuhr Moped ohne Helm und bekam seine Anzeige. Sein Mofa wurde haarklein kontrolliert, als vermutete man darin ein Drogenlabor. Beschäftigungstherapie. (Exkurs-Ende)
Und strömen Polizeikräfte in die Parks aus und tun Dienst. Mal freundlich, mal patzig zeigen sie Präsenz, sie kontrollieren, bemängeln und ermahnen, sie ahnden hier und erheben Anzeige dort. Auch die einstmals beliebte Fahrradkontrolle ist zurück.
Und angesichts der neuen, eingerissenen Sorglosigkeit, die jetzt an vielen Stellen beobachtet wird, seit die sog. «Lockerungen» verkündet wurden, mag das ja auch nicht falsch sein, wenn dabei «Maß und Mitte» (sorry, could not resist) walten. Irgendwie.
Mir geht es an dieser Stelle nicht um Fälle, in denen erweiterte Befugnisse und Ermessensspielräume von der Polizei willkürlich ausgenutzt werden und in welchem Ausmaß dies gerade geschieht, zum Beispiel durch Racial Profiling. Das ist eine zweifellos notwendige Diskussion.
Aber als jemand, der seine Zehenspitze einst für kurze Zeit in den kühlen Teich der Kriminologie getaucht hat, frage ich mich an dieser Stelle nur ganz simpel, ob und inwieweit Bagatelldelikte die polizeiliche Kriminalstatistik von 2020 aufblähen werden.
Ich sehe immer wieder diesen albernen Hashtag #flattenthecrime einer bestimmten Landespolizei. Und ich befürchte, dass das, was wir sehen werden, kein Flattening der Kurve in der Kriminalitätsstatistik sein wird, sondern ein ordentlicher Spike.
Was für Schlüsse werden wir dann später daraus ziehen in einer Zeit, in der es eigentlich darum gehen müsste, Polizeikräfte von ihren erweiterten Befugnissen und Ermessensspielräumen wieder zu entwöhnen?
Werden wir dann mit der These konfrontiert, Corona habe die Menschen krimineller gemacht, Kriminelle hätten Corona massiv ausgenutzt, die Statistik beweise es, deshalb bräuchten wir jetzt mehr Härte und Kompetenzen für die Strafverfolgungsbehörden?
Oder werden wir uns an einen beinahe menschenleeren Landstrich im ehemaligen Zonenrandgebiet erinnern, der in den achtziger Jahren auf wundersame Weise plötzlich zu einem Kriminalitäts-Hot-Spot wurde?
(Puh, ziemlich viel Strecke für eine einfache Frage, aber ich denke, ich bin jetzt fertig.)
(Dislaimer: Das oben ist nur eine subjektive Rekapitulation des Lüchow-Dannenberg-Effekts aus der Erinnerung heraus. Meine kleine Handbibliothek kriminologischer Fachliteratur habe ich schon vor einigen Umzügen aufgegeben und zurückgelassen. Korrekturen ggf. gerne per Reply.)
