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Häufig heißt es, die AfD sei mittlerweile die zweitstärkste politische Kraft in Ostdeutschland. Das ist falsch. Die AfD ist heute faktisch die stärkste Partei in Ostdeutschland. (Thread)
In den vergangenen acht Wochen hatten 7,1 Mio. Menschen in drei ostdeutschen Bundesländern die Möglichkeit, ihre Stimme bei einer Wahl abzugeben. 4,5 Mio. Menschen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch und gaben eine gültige Stimme ab (63,7%).
In allen drei Bundesländern landete die AfD zwar «nur» auf dem zweiten Platz. In jedem dieser Bundesländer siegte aber jeweils eine andere Partei, die in den anderen Ländern vergleichsweise schwach abschnitt. Nur die AfD war in allen Ländern gleichermaßen stark.
Betrachtet man die Summe aller abgegebenen Zweitstimmen (bzw. Listenstimmen und Landesstimmen) in den drei Ländern, schnitt die AfD mit 25,4 Prozent am stärksten ab, gefolgt von der CDU mit 25,0 Prozent. Linke (15,5%), SPD (13,0%) und Grüne (8,4%) sind deutlich abgeschlagen.
Diese Betrachtungsweise mag irrelevant sein, wenn man sich mit der – selbstverständlich nicht unbedeutenden – Frage nach Sitzverteilungen und Regierungsbildungen innerhalb der 1990 gezogenen Ländergrenzen beschäftigt.
Wenn wir uns aber einen Eindruck über das aktuelle politische Klima in Ostdeutschland unabhängig vom Verlauf einzelner Ländergrenzen machen wollen, ist eine solche Gesamtbetrachtung durchaus sinnvoll. Und das Ergebnis einer solchen Betrachtung ist katastrophal.
Während sich die politische Lage in den drei Ländern, die zuletzt gewählt haben, als außerordentlich unterschiedlich herausstellt, gibt es nur eine Konstante: stabile Ergebnisse für eine faschistische Partei, die mittlerweile von rund einem Viertel der Wähler gewählt wird.
Natürlich hat diese Betrachtung den Makel, dass sie Aussagen über «Ostdeutschland» trifft, obwohl aktuelle Wahlergebnisse nur aus drei Bundesländern vorliegen. Aber sie sind eben taufrisch, und es sind amtliche Ergebnisse, echte Stimmen, keine Umfragen. Cold hard data.
Möchte man aus diesen Zahlen einen verallgemeinerbaren «Schnappschuss» ableiten, dann sehen wir einerseits zunehmend instabile Parteien mit regionalen Ausreissern hier und dort, mal nach oben, mal nach unten – und einen konsolidierten (proto-) faschistischen Block.
Diese Betrachtung soll kein Ost-Bashing sein. Einiges spricht dafür, dass die ostdeutschen AfD-Wähler eine Art Türöffner-Wähler sind: Jeder Wähler, der seine Hemmung verloren hat, eine faschistische Partei zu wählen, senkt die Hemmschwelle für jene, die noch nicht so weit sind.
Je stärker die AfD in ihren Hochburgen wird, desto attraktiver wird sie auch außerhalb. Für jedes Prozent, dass die AfD derzeit im Osten zulegt, werden Wähler auch im Westen folgen - bis die Partei ihr Potential ausgereizt hat. Ich glaube nicht, dass dieser Punkt erreicht ist.
Jetzt gibt es Firewall-Demokraten™, die sagen, jaha, es stehen aber stolze drei Viertel der Wähler gegen die AfD! Das sind allerdings die gleichen Leute, die sich nach der Bundestagswahl noch als Teil einer 85-Prozent-Firewall feierten. Die Firewall schmilzt langsam ab.
Wird die AfD irgendwann eine parlamentarische Mehrheit erringen? Die Frage ist müßig. Faschistische Bewegungen brauchen keine 50,1 Prozent, um an die Macht zu kommen. Ist einmal eine bestimmte kritische Masse erreicht, finden sich genügend Steigbügelhalter und nütliche Idioten.
«Fascism does not need a majority – it typically comes to power with about 40 per cent support and then uses control and intimidation to consolidate that power. So it doesn’t matter if most people hate you, as long as your 40 per cent is fanatically committed.» (Fintan O'Toole)
Natürlich gab und gibt es Versuche, das Wachstum der AfD einzudämmen. Viele dieser Versuche waren untauglich, andere halbherzig, manche auch nur vorgeschoben. Die AfD konsolidierte sich auch, weil es keinen breiten Konsens darüber gibt, wie ihr entgegengetreten werden soll.
Und leider gibt es auch keinen Konsens mehr darüber, *dass* einer solchen rechtsextremen Bedrohung überhaupt entgegengetreten werden muss. Auch das ist ein Effekt des Erstarkens der AfD: Je stärker sie wächst, desto stärker wächst die Toleranz von Larifari-Bürgern nach rechts.
Je stärker die AfD wächst, desto mehr wird dies von einem wachsenden Teil der Mitte als Beleg genommen, dass die Partei so schlimm nicht sein könne. Sonst würde sie ja nicht wachsen, nicht wahr? Je radikaler und unverstellter die Partei auftritt, desto mehr hört man weg.
Der wichtigste Grundkonsens in Deutschland, das unverhandelbare Grund-Dogma der bürgerlichen Mitte ist die Behauptung von Normalität. Wichtiger noch als das «Wir sind wieder wer!» der Nachkriegszeit ist das «Wir sind total normal!» der Nachwendezeit. Sommermärchen forever.
Diese Fiktion der Normalität muss um jeden Preis aufrecht erhalten werden. Paradoxerweise ist gerade deshalb eine wachsende Zahl von Deutschen bereit, Nazis in Parlamenten hinzunehmen und ihnen ihre erlauchte Toleranz zu erweisen. Wenn sie denn schon mal da sind.
Denn wäre die AfD in Parlamenten nicht tolerabel, wäre die Normalitätsfiktion nicht mehr aufrecht zu erhalten. Also werden wir ihr noch viele, viele Brücken bauen, sie relativieren und Debatten über Meinungsfreiheit und «Ränder» führen, bis zum Verlust jeder Selbstachtung.
Je stärker die AfD wächst, desto normaler wird sie und desto näher erscheint sie der normalitätsbesoffenen Mitte. Und desto ferner und degoutanter erscheint der Mitte die fortgesetzte Ruhestörung derer, die sich als antifaschistisch verstehen. Die sind die neuen Ewiggestrigen.
Die AfD ist nach den aktuellen Wahlen die stärkste politische Kraft in Ostdeutschland. Sie ist dies geworden, weil ein Viertel der Wähler dort kein Problem mehr damit hat, sich mit einer mittlerweile offen faschistisch auftretenden Partei zu identifizieren und diese zu wählen.
Sie haben nicht nur, aber auch deshalb kein Problem damit, weil die breite Mitte der Gesellschaft besessen davon ist, dass die Probleme ganz woanders liegen. Überall dort nämlich, wo man nicht länger dabei gestört werden will, endlich den ersehnten Schlussstrich zu ziehen.
Einen Schlussstrich, der uns nicht nur von der barbarischen Vergangenheit abschneiden und von ihrem Ballast befreien, sondern uns endlich auch unverrückbar im Fabelreich der Normalität platzieren soll. Es ist dieser Schlussstrich, für den rabiat Meinungsfreiheit beansprucht wird.
Der Kollateralschaden dieses Kampfes um Normalität sind Toleranz und Meinungsfreiheit auch für Faschisten, die den Schlussstrich nicht nur unter das Dritte Reich, sondern auch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ziehen wollen. Aber wo gehobelt wird, fallen bekanntlich Späne.
PS: Das Fintan-O'Toole-Zitat stammt aus diesem Kommentar in der Irish Times aus dem Sommer 2018: irishtimes.com/opinion/fintan…
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