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Ich weiß, es ist Common Sense, dass verantwortungsbewusster Journalismus nicht die Attentäter, ihre Manifeste oder Videos in den Mittelpunkt der Berichterstattung rücken solle, weil diese Attentäter schließlich genau nach dieser Aufmerksamkeit heischten.
Das mag auch sinnvoll sein, wenn irgendein durchgeknallter Einzeltäter aus irgendwelchen Wahnideen heraus irgendwo einen wahllosen Amoklauf im Einkaufszentrum veranstaltet. Natürlich: Diesen Leuten und ihren Traktaten sollte man nicht mehr Prominenz schenken als unvermeidlich.
Bei der Art von Terror wie in Christchurch oder nun in Halle sehe ich das mittlerweile etwas anders. Das sind Einzeltäter nur insofern, als kein zweiter Mann im Auto saß. Aber sie sind Teil einer gemeinsamen globalen Bewegung, eines Netzwerks, einer Ideologie.
Dieses Netzwerk mag divers sein, die Ideologie mag unterschiedliche Ausprägungen haben, doch die faschistischen Grundzüge sind überall die gleichen. Niemand gibt einen Befehl, und doch setzt sich irgendwo immer wieder einer in Bewegung. Und alle beziehen sich auf das gleiche.
Utøya, der NSU, Pittsburg, Lübcke sind weitere spektakuläre Beispiele, dabei sind rassistische, und antisemitische Übergriffe längst schulterzuckend wegignorierter Alltag. Natürlich sind das technisch gesehen alles Einzeltäter. Und doch steht keinen von denen nur für sich.
Ich glaube nicht, dass man diese Menschen am besten mit Nichtachtung straft. Im Gegenteil: Sie profitieren doch gerade von der Nichtbeachtung, vom Desinteresse, der breiten öffentlichen Ignoranz. Genau aus dieser Deckung heraus operieren sie ja.
Unsere Gesellschaft ist besessen davon, endlich ein normales, liebenswertes Land zu sein, ein niemals endendes Sommermärchen, die Vergangenheit bestens aufgearbeitet und ordentlich abgeheftet. Also relativieren wir alles weg, was dieses schöne Bild von uns selbst stört.
Man ist überzeugt davon, dass Rassismus allenfalls ein Randphänomen ist, dass der heutige Antisemtismus nur ein importierter ist, dass Übertreibungen und Panikmache uns nicht weiterhelfen. Bei Nazis und Klimaschutz gilt das gleiche: Bitte nicht die öffentliche Ruhe stören!
Wenn aufgedeckt wird, wie mit Sicherheitsbehörden vernetzte Nazikader Todeslisten erstellen, Waffen horten, sich radikalisieren und aufrüsten, ist das ein Schulterzucken wert, aber keine öffentliche Debatte, und schon gar kein Durchgreifen. Leichensäcke, Löschkalk? Ach, geh.
Eine öffentliche Debatte, politisches und juristisches Handeln, ein harter Kurs gegen Rechtsextreme, das alles wäre ein Eingeständnis, dass es ein handfestes Problem gibt. Wir wollen aber aber keine Probleme. Wir wollen es nicht sehen und nicht hören. Wir wollen unsere Ruhe.
Halle zeigt nun allen (wie schon zuvor der Lübcke-Mord, wie die Mordserie des NSU, etc.pp.) wieder einmal, dass Nazis keine harmlosen Waffennarren sind, sondern bereit sind, ihre Waffen einzusetzen. Wir sehen auch: die Hemmschwellen sinken, die Skrupellosigkeit nimmt zu.
Was für eine Überraschung, oder in den Worten des Bundespräsidenten: «unvorstellbar». Niemand hat «es kommen sehen». Man kann halt nicht hineinschauen in diese kranken «Einzeltäter», gell? Und hey, vergessen wir nicht diese Linksextremisten! Das Böse hat so viele Gesichter!
Deshalb wird es auch keine ernsthaften Konsequenzen geben, nur ein paar Alibimaßnahmen, neue Einsatzpläne für Streifenwagen, ein Klimapaket fürs politische Klima, damit wir uns wieder alle hinlegen können. Die heilige Normalität muss schnellstmöglich wieder hergestellt werden.
Um zum Thema zurückzukommen: Nein, ich glaube nicht, dass wir dieser schmerzlosen, abgebrühten, indolenten Gesellschaft die Zeugnisse dieses Terrors ersparen sollten, nur weil ein Attentäter nach Aufmerksamkeit giert. Damit machen wir es uns zu einfach. Das ist zu bequem.
Jede*r sollte es sich anschauen, anhören müssen, einmal, mehrmals. Damit das ständige Verharmlosen ein Ende hat. Damit jede*r sieht, wohin dieses Denken führt. Damit wir wissen: Wer dann immer noch abwiegelt und diesen Terror relativiert und einordnet, ist ein Sympathisant.
Schenken wir diesen Nazi-Terroristen nicht länger die Deckung unseres Desinteresses. Verharmlosen wir sie nicht als irre Einzeltäter, obwohl wir ihr Vokabular und Theorien täglich in Parlamenten, in Talkshows und in den Social-Media-Posts von Bekannten wiedererkennen können.
Vieles von dem, was heute in sozialen Medien Alltag ist, liest sich wie von Anders Breivik eingeflüstert. Niemand soll jemals wieder «überrascht» sein, es «unvorstellbar» finden, es «nicht habe kommen sehen». Niemand soll sich weiterhin dummstellen können. Es kotzt mich so an.
(P.S.: Ich weiß, es gibt gute Gründe für die Gegenposition. Ich kann sie alle verstehen. Aber ich ertrage dieses Wegschauen nicht mehr, selbst das Wegschauen aus besten und edelsten Motiven.)
((Ich muss hier raus.))
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