Thread by @prof_mayer

Service tweet zum Vorrang des Europarechts
Derzeit geht einiges wild durcheinander in der Debatte: Ultra vires-Kontrolle, Überprüfung des Europarechts durch nationale Gerichte, EU -
Bundesstaat, alles irgendwie mit Kontext absoluter Vorrang – ja was denn nun. 1/14

Der 1963 richterrechtlich entwickelte Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht (incl Verfassungsrecht) kann mit der Erklärung zum Vorrang, (Vertrag von Lissabon) heute als kodifiziert gelten - von den Mitgliedstaaten unterschrieben & ratifiziert 2/14

Vorrang-Begründung: einheitliche Rechtsgeltung in den Mitgliedstaaten & Gleichheit der Rechtsunterworfenen. Solidarität, Fairness, Gegenseitigkeit. 3/14

Einfache Testfrage an alle Vorrang-Skeptiker: was wenn das jeder täte. Wäre ja nicht nur Deutschland, wird oft übersehen - wenn jeder Mitgliedstaat sein Recht dem EuR entgegensetzen könnte, dann wäre Rechtseinheit in der EU vorbei. Dann kann man es bleiben lassen mit EU.
4/14

Und es würde auch ein Gleichheitsversprechen gebrochen: wenn MS sich aussuchen können, was gilt, dann wird das Recht des Stärkeren, des mächtigeren Mitgliedstaates. Das lassen sich die anderen dann nicht mehr gefallen.
5/14

EuR beansprucht nur Anwendungsvorrang, nicht Geltungsvorrang, ist also weniger Hierarchie, vielmehr eine Art Vorfahrtsregel oder Vorzugsregel auf gleicher Ebene. Gerade nicht wie im Bundesstaat (Art. 31 GG), sondern viel schonender.
6/14

Ein starres Vorrangkonzept ist ein Problem. Wenn Unionsrecht bedingungslos Vorrang gegenüber nat. Recht incl. Verfassungsrecht fordert dann scheint das der besonderen demokratischen Wertigkeit der nationalen Verfassung nicht zu entsprechen. In den NL zB trotzdem EuR>nat VerR
7/14

Mögliche Lösung für allseits verträgliche Grenzen des Vorrangs: nationale Verfassungsidentität. Nach Art. 4 II EUV achtet die EU die nat. Ident. ihrer Mitgliedstaaten, einschl. der „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ = eine im EuR eingebaute Grenze
8/14

Damit kann von der europäischen Ebene aus der Vorranganspruch gegenüber mitgliedstaatlicher Verfassungsidentität zurückgenommen werden. Als Ausnahme - die im Grundsatz einheitliche Anwendung des Europarechts darf nicht gefährdet werden. Grundprinzip bleibt der Vorrang.
9/14

Zugleich signalisiert die nationale Verfassungsebene was wirklich wichtig ist und vorrangfest bleiben soll. Damit darf natürlich kein Missbrauch getrieben werden. Deswegen kann das nicht einseitig festgelegt werden.
10/14

Verfahren: Ein nationales Höchstgericht darf sich gegenüber dem Unionsrecht nur dann auf den Schutz der nat. Verf.ident. berufen, wenn zuvor der EuGH im Wege des Vorlageverfahrens befasst wird. Vorlage als Dialogverfahren für ein Gespräch zwischen den Gerichten. 11/14

Für diesen kooperativen verfassungspluralistischen Weg gibt es Beispiele. Div. nationale Höchstgerichte argumentieren mit der Verfassungsident. Und der EuGH macht das mit (Bsp.: Rs. Sayn-Wittgenstein) eur-lex.europa.eu/legal-content/…
12/14

Ultra vires-Kontrolle (=Übergriff in die Zuständigkeit des EuGH) also nicht nötig um angeblich absoluten Vorrang abzuwehren. Den gibt es so nicht mehr.
13/14

Ultra vires-Kontrolle ist letztlich im Kern einseitiger Vorwurf an den EuGH: „Ihr kriegt das nicht hin“. Die Identitätskontrolle dagegen verteidigt, aus der nationalen Verfassung heraus, ohne Angriff auf EuR: „Hier stehen wir, wir können nicht anders“. Ganz andere Haltung.
14/14