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Nuckeln, Schnullern, Daumenlutschen

Ein kleiner Thread zum Saugbedürfnis und wie Eltern damit respektvoll umgehen können.
Jedes gesunde Baby hat das Bedürfnis, zu saugen. Bereits Ungeborene nuckeln an ihren Händen, und bei vielen Neugeboren wandert bei einer der ersten Handbewegungen nach der Geburt ein Finger in den Mund (oder mehrere). Das Saugbedürfnis ist bei Menschenkindern also angeboren.
Das Saugen erfüllt für das Baby dabei von Anfang an mehrere Funktionen: Es sichert die Nahrungsaufnahme, ist aber auch eine wichtige Strategie zur Emotionsregulation. Denn Nuckeln entspannt, beruhigt und erleichtert das Einschlafen. Beide Funktionen sind gleich wichtig.
Der erste Ort, an dem die meisten Babys sich nach der Geburt ihr Saugbedürfnis erfüllen, ist die Brust. Das Stillen ist für sie dementsprechend von Anfang an nicht nur eine Strategie gegen Hunger. Sondern auch eine zur Beruhigung und Regulation.
Es ist normal, dass das Saugbedürfnis das Bedürfnis nach Milch übersteigt. Das heißt: Wenn Babys 'nur nuckeln und gar nicht richtig trinken' ist daran nichts verkehrt. Im Gegenteil: Dieses so genannte non-nutritive Saugen trainiert die Saugmuskulatur und regt die Milchbildung an.
So normal es ist, dass gestillte Babys ihr Saugbedürfnis an der Brust befriedigen - und zwar auch dann, wenn sie keinen Hunger haben - so normal ist es auch, dass sie es nicht ausschließlich an der Brust befriedigen. Sondern auch noch woanders nuckeln. Zum Beispiel am Daumen.
Nicht gestillte Babys erfüllen sich ihr Saugbedürfnis meist vor allem beim Trinken aus der Flasche. Da dabei jedoch weniger intensives Saugen notwendig ist als beim Stillen und non-nutritives Saugen kaum möglich ist, stillen sie ihr Saugbedürfnis meist ebenfalls noch anderswo.
Es ist also normal und kein Anzeichen irgendeines Mangels, dass Babys ihr Saugbedürfnis nicht allein beim Stillen bzw. beim Trinken aus der Flasche stillen.
Erfüllt ein Baby sich sein Saugbedürfnis zusätzlich am eigenen Daumen, ist das eine großartige Sache, und zwar ohne Wenn und Aber. Denn: Das zeigt, dass dieser Minimensch bereits über eine eigene Selbstregulationsstrategie verfügt. Und das ist GROẞARTIG!
Längst nicht alle Babys können das. Die meisten Menschenkinder sind nämlich auf Co-Regulation angewiesen, um Stress zu verarbeiten. Auch das ist ganz normal. Doch knapp 30 % aller Neugeboren (ich nenne sie regulationsstarke Babys) können das bis zu einem gewissen Grad schon!
Trotzdem hören Eltern kleiner Daumenlutscher von allen Seiten den Rat, ihrem Kind lieber einen Schnuller anzugewöhnen. Der Zähne wegen.

Aus meiner Sicht ein schlechter Rat, der das geniale angeborene Selbstberuhigungssystem untergräbt, aus fragwürdigen Gründen.
Warum also wird der Schnuller empfohlen? Zum einen, weil eine mächtige Lobby dahinter steckt: Mit Schnullerkindern lässt sich viel Geld verdienen. Mit Daumennuckeln nicht. Also investieren Hersteller Millionen in Studien, die die Überlegenheit ihrer Produkte zeigen sollen.
Zum anderen bleibt bei der Schnullergabe die Kontrolle bei den Erwachsenen: Sie entscheiden, wann, ob und wie viel das Kind nuckeln darf. Sie können den Schnuller geben und wegnehmen, einziehen und an bestimmte Situationen koppeln, und im Zweifelsfall ganz einbehalten.
Das heißt: Die Schnullergabe zementiert die Macht der Erwachsenen, während das Daumenlutschen die Autonomie bei den Kindern lässt.

(Es sei denn, Eltern sind extrem fies und machen den Daumen mit Tinkturen bitter oder kleben ihn ab.)
Das heißt natürlich nicht, dass Schnuller schlecht oder verkehrt wären. Es gibt Kinder, die nuckeln einfach nicht am Daumen, haben aber ein Saugbedürfnis, das sie beim Trinken/non-nutritiven Saugen an Brust oder Flasche allein nicht stillen können. Für sie sind Schnuller prima.
Und für Babys, die per Sonde ernährt werden, also bei der Lebensmittelaufnahme gar nicht saugen, sind Schnuller sogar extrem wichtig.

Auch können Eltern Schnuller selbstverständlich achtsam und respektvoll nutzen.
Ein bisschen aufpassen müssen Eltern von Stillkindern mit allen künstlichen Saugern (Fläschchen, Schnuller), weil manche Babys Schwierigkeiten haben, zwischen den verschiedenen Saugtechniken hin und her zu wechseln und daraus Stillprobleme erwachsen können.
Ansonsten spricht nichts dagegen, dass ein Kind sein Saugbedürfnis mal an der Brust und mal am Schnuller, oder mal am Fläschchen und mal am Daumen, oder mal so, mal so und mal an Mamas oder Papas kleinem Finger befriedigt.
Spannend ist nun, was passiert, wenn das Kind älter wird und Zähne bekommt. Bei den meisten Kindern lässt das starke Saugbedürfnis dann nämlich allmählich nach, und im zweiten bis dritten Lebensjahr verliert es sich ganz und wird durch andere Selbstregulationsstrategien ersetzt.
Das heißt: im Zuge einer normalen kindlichen Entwicklung müssen Kinder nicht vom Saugen entwöhnt werden, sondern entwöhnen sich allmählich selbst. Das dauert aber.
Dafür ist es wichtig, sich bewusst zu machen, wie lange die arttypische Stilldauer eines Menschenkindes aus rein biologischer Sicht ist. Nämlich mindestens zwei Jahre. Das heißt: Die allermeisten Kinder hierzulande werden deutlich kürzer gestillt, als ihr Saugbedürfnis andauert.
Das ist nicht schlimm, erklärt aber, warum vielen Kleinkindern ihr Schnuller, Daumen oder Nuckelfläschchen so wichtig ist: Sie erfüllen sich damit ihr komplettes Saugbedürfnis, auch das, das sie in weiten Teilen der Menschheitsgeschichte noch beim Stillen erfüllt hätten.
Dazu kommt, dass wir in unserer Kultur dazu neigen, Kinder früh zur Selbstständigkeit erziehen zu wollen. Abhängigkeit von den Eltern gilt als nicht erstrebenswert, Unabhängigkeit als fördernswert. Das führt dazu, dass kleine Kinder in vielen Situationen allein gelassen werden.
Etwa beim Einschlafen. Oder wenn sie Stress in der Kita haben. Oder wenn sie traurig, müde, wütend oder unausgeglichen sind. Anstatt Kindern enge Begleitung und Co-Regulation anzubieten, sollen sich viele Kinder in solchen Situationen selbst beruhigen.
Welche Strategie steht ihnen dazu zur Verfügung? Natürlich die erste Selbstregulationsstrategie, die sie je hatten: Das Saugen. Also nuckeln sie sich in den Schlaf und durch den Trennungsschmerz, durch Frust und Angst, Wut und Einsamkeit.
Daumen, Schnuller und Nuckelfläschchen werden so zu den ultimativen Tröstern. Und bekommen so eine emotionale Bedeutung, die ihre ursprüngliche Rolle - das Saugbedürfnis zu erfüllen - in den Hintergrund drängt.
Die Folge: Sie bleiben auch dann für das Kind gefühlt unverzichtbar, wenn sich sein angeborenes Saugbedürfnis eigentlich von selbst verlöre. Denn es geht längst nicht mehr um den Akt des Saugens an sich. Das Nuckeln ist zum Inbegriff von Trost und Beruhigung geworden.
Ausgerechnet jetzt wird vielen Eltern geraten, ihrem Kind das Nuckeln anzugewöhnen. Den Zähnen und der Aussprache wegen. Also wird das Kind bearbeitet: zuerst mit freundlichen Erklärungen, dann oft mit mehr Druck, schließlich nicht selten mit kaltem Entzug.
Für die betroffenen Kinder ist das oft FURCHTBAR. Vielen wird ihre einzige Strategie genommen, sich selbst Ruhe und Trost zu schenken. Es gibt Erwachsene, denen steigen bei der Erinnerung daran heute noch die Tränen in die Augen.
Was also ist die Alternative? Dauernuckeln bis ins Erwachsenenalter? Nein. Aber das Nuckeln ist nur das Symptom eines tieferliegenden Themas. Erst wenn das Kind gelernt hat, sich anders getröstet und geborgen zu fühlen, kann es das Nuckeln undramatisch hinter sich lassen.
Konkret heißt das: wenn ein Kind mit drei, vier, fünf Jahren noch ein starkes Nuckelbedürfnis zu haben scheint, spricht viel dafür, dass es auf diese Weise versucht, Stress abzubauen und die von ihm geforderte Selbstständigkeit zu zeigen.
Ein Weg da raus kann sein, ganz bewusst Stressfaktoren in seinem Leben zu reduzieren, gemeinsam neue Entspannungswege einzuüben und - mehr Co-Regulation anzubieten. Also zum Beispiel: In den Schlaf begleiten statt allein einschlafen lassen.
Konkret heißt das: Klar ist das Ziel, dass unsere Kinder irgendwann ohne Nuckeln sein können - aber 'einfach wegnehmen' ist der schlimmste Weg dahin.
Dass der Schnuller dem Daumen angeblich überlegen sein soll, weil er sich 'leichter abgewöhnen lässt', ist jedoch ein Euphemismus genau dafür.
Fassen wir also zusammen: Das Saugbedürfnis ist angeboren und bei Kindern von Geburt an unterschiedlich stark ausgeprägt. Im Laufe der kindlichen Entwicklung verliert es sich nach und nach von selbst. Es gibt viele gute Wege, es zu befriedigen.
Es ist total okay, wenn ein Kind sein Saugbedürfnis ausschließlich an der Brust befriedigt. Oder ausschließlich an der Flasche. Oder bei beidem. Und zusätzlich mit einem Schnuller. Oder einem Nuckelpüppchen. Oder beim Daumenlutschen. All das ist wunderbar.
Zeigt ein Kind auch nach dem dritten Geburtstag noch einen starken Nuckelwunsch, kann es eine gute Idee sein, da mal genauer hinzuschauen. Ohne Stress und ohne anzunehmen, deshalb etwas falsch gemacht zu haben. Kinder sind verschieden, Entwicklung verläuft verschieden.
Doch jetzt kann ein gutes Alter sein, gemeinsam zu erkunden, welche Selbstregulationsstrategien es noch geben könnte.
Und wenn Zahnärtzt*innen, Logopäd*innen und Kinderärzt*innen vor negativen Folgen des Nuckelns und für einen harten Schnitt plädieren sollten, weil sich etwa bereits ein lutschoffener Biss zeigt: nicht verunsichern lassen.
Sie mögen Expert*innen für Zähne oder Sprachentwicklung sein, doch ihr Spezielgebiet ist nicht die Bindungsforschung und nicht die Eltern-Kind-Beziehung. Deshalb dürfen sie ihre Bedenken zwar äußern. Aber die Entscheidung treffen wir Eltern, unter Berücksichtigung ALLER Faktoren.
Und vor allem: Schaut feinfühlig auf Eure Kinder und lasst ihnen ihre Lieblings-Selbstberuhigungsstrategie, so sie bereits eine haben. Das gebietet nicht nur der Respekt vor diesen kleinen Menschen, es macht Euch wie ihnen auch einfach das Leben leichter.

- Threadende -
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