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Gute, professionelle Literaturkritik gebe es im Print-Feuilleton, alles andere sei Amateur Hour am Internet-Stammtisch. Sagt (jedenfalls so ähnlich und von mir unzulässig verkürzt) Sigrid Löffler. Zeit für eine neuerliche Großvater-erzählt-Threadpredigt mit Überlänge. Prost!
Mitte der neunziger Jahre belegte ich als Student der Literaturwissenschaften ein Seminar über Literaturkritik, angeboten von einem richtigen, leibhaftigen FEUILLETONREDAKTEUR einer angesehenen ÜBERREGIONALEN TAGESZEITUNG! (Ich war voller Vorfreude.)
Am Ende rezensierten wir alle eine bestimmte Neuerscheinung eines amerikanischen Autors (des Lieblingsautors des FEUILLETONISTEN). DER FEUILLETONIST mochte meinen Versuch, zu einer Zeile meinte er anerkennend: «Igittigitt!». Ich faxte die Besprechung an ein paar Zeitungen.
Eine größere regionale Tageszeitung nahm die Rezension ab. Dann, ein paar Wochen später, schickte mir der dortige Literaturredakteur unerwartet ein weiteres Buch. Im Rezensionsexemplar steckte eine Postkarte, auf der er um 280 Zeilen bat. (Es wurde gleich mein erster Verriss.)
Ich lieferte, er druckte, und plötzlich war ich der neue Mann für neue amerikanische Literatur. Immer wieder jetzt kamen neue Rezensionsexemplare mit der Post, manchmal lehnte ich ab (James Michener? WTF!), die meisten Aufträge übernahm ich. Manchmal bot ich selbst etwas an.
Ich brauchte Geld, die erbetene Zeilenzahl begann ich daher bald dreist zu überschreiten. Der Redakteur kürzte meine Sachen überraschend selten; wenn der Text zu lang war, ließ er ihn liegen, bis er genug Platz hatte. Oder hob ihn für die Literaturbeilage auf. Es lief gut.
Plötzlich war ich Literaturkritiker, auch wenn ich es heute nicht mehr so nennen würde, weil ich diesen Beruf nie hauptberuflich ausgeübt habe. Ich bekam zwei D-Mark pro Zeile. (Das entsprach, ohne Inflation, in etwa 1 Euro, Kids!) Das war ein unglaublich luxuriöser Zeilensatz.
Ab und zu tauchten auf meiner Honorarabrechnung Pauschalen für Texte auf, die es gar nicht gab. Nach zwei Anrufen beim Verlag ging mir auf, dass mein Redakteur sich offenbar auch als finanzieller Förderer verstand. Es war noch die goldene Zeit. Die Zeitung platzte vor Anzeigen.
Ich habe den Mann in den fünf Jahren unserer Zusammenarbeit nie getroffen und nur einmal mit ihm telefoniert. Wir kommunizierten per Büchersendung, Fax und Banküberweisung. Es war eine unkomplizierte, offene Beziehung. Ich mochte den Kerl und wusste nicht mal, wie er aussah.
(Viel später lernte ich einen altgedienten Wirtschaftsredakteur dieser Zeitung kennen, der ihn noch von früher kannte. Was für ein feiner Kerl, rief er. Dass ich zwei (!) Mark pro Zeile bekommen hatte, fand er trotzdem nicht in Ordnung. Er hatte damals 70 Pfennig bekommen.)
So füllte ich Spalten um Spalten. Und dann ging mein Redakteur in den Ruhestand. Eine Rezension, die noch auf Halde lag, wurde vom Nachfolger auf 60 Zeilen zusammengestrichen. Dann kamen, selten, neue Aufträge für Unterhaltungsschmonz. 40, 50 Zeilen, bitte mit Tipp-Charakter.
Immer öfter erschienen in der Zeitung jetzt kurze Buchtipps nach dem «Wer XY mochte, wird auch dieses Buch lieben»-Muster. Ich stieg aus. Für schnöde Bestseller-Empfehlungen war ich mir wohl zu fein. Beruflich hatte ich zwischenzeitlich eh einen anderen Weg eingeschlagen.
Und finanziell lohnten sich 40-Zeilen-Aufträge ohnehin nicht. Nicht bei dem Aufwand, den ich bislang betrieben hatte. Ich hatte immer sehr gründlich gearbeitet, ich dachte, das gehört sich so für zwei D-Mark.
15 Jahre später saß ich in einer Jury eines mäßig beleumundeten Branchenpreises, und eines der zu jurierenden Produkte war die Literaturbeilage «meiner» alten Zeitung. Ein biederes, flatteriges Heftchen mit kurzen oberflächlichen Empfehlungshäppchen für Kalkulationsliteratur.
(Ich vergab null Punkte.)
Es war ja nicht nur «meine» Zeitung. Diese Art von wasserlöslicher Instant-Literaturkritik hatte damals in der gesamten deutschen Zeitungslandschaft ausgebreitet. Ausnahmen, oft bei den überregionalen Zeitungen, bestätigen die Regel.
Wer sich heute wie Frau Löffler über ungelenke Amazon-Kritiken von Amateur*innen beömmelt, verkennt, dass hier nicht selten einfach nur die fade, flaue Häppchenkritik imitiert wird, wie man sie heute von den mannigfach kaputtgesparten Regionalzeitungen vorgesetzt bekommt.
Wenn jemand die Literaturkritik kaputtgemacht hat, dann waren es die Zeitungen selbst, die ihre Kulturteile kosteneffizient ausbluten ließen, als kein Geld mehr aus dem Anzeigengeschäft nachfloss. (Sofern die Zeitungen denn überhaupt überlebten.)
(Aber wer weiß, vielleicht bin ich auch nur beleidigt, weil sie damals meine teuren, langen Riemen nicht mehr abdrucken wollten. Wie dieser Thread zeigt, neige ich ja zu einer gewissen Langatmigkeit, die nunmehr *Sie* hier ausbaden müssen.)
Was nun das böse Internet mit dem Niedergang der Literaturkritik zu tun haben soll, weiß ich nicht. Lesende Menschen stoßen hier in eine Lücke, die die Zeitungen hinterlassen haben. Manchen gelingt dies besser, anderen weniger.
Ich hab’s übrigens auch versucht und dabei gelernt, dass ich mein Kritiker-Mojo mit den Jahren offenbar verloren habe. Was Sigrid Löffler heute so treibt, weiß ich nicht. An Stammtischen sucht man sie vermutlich vergebens. Prost!
Mehr zur Löffler-Kritik erzählt Simon Sahner zum Anhören hier:
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