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Guten Morgen, ihr Lieben, ich bin die ganze Nacht wachgeblieben und habe die Hugo-Awards gestreamt, damit ihr es nicht tun müsst. Es war, wie man so schön sagt, a total shitshow und ich kann keine zwei Artikel drüber schreiben, also erzähle ich euch hier davon. #HugoAwards
Vorweg: ich bleibe dabei, dass jedes Fandom sich mit seiner Geschichte auseinandersetzen muss und es nicht darum geht, in einem Clash zwischen Generationen "alteingesessene" Fans zu verdrängen, aber Respekt muss gegenseitig sein und HIMMEL war das gestern nicht gegeben.
Ich glaube nicht, dass das, was George R. R. Martin gestern gesagt oder getan hat, boshaft gemeint war. Ich möchte gerne glauben, dass er wirklich vorhatte, sich als kurioser Märchenonkel hinzusetzen und allen die Geschichte einer Convention nahezubringen, die er sehr liebt.
Aber der Reihe nach: Es ist 1:00 nachts und ich bin fest entschlossen, mein verbleibendes Datenvolumen zu verpulvern, um den Hugo-Stream zu gucken. Dieses Jahr findet alles online statt. Der Stream läuft gut, George R. R. Martin trägt einen lustigen Hut. Es kann losgehen.
Martin überträgt live aus seinem Kino. Zur Anmoderation der einzelnen Kategorien schaltet er aber zu vorher aufgenommenen Videoclips - überwiegend von sich selbst. Der Wechsel zwischen Clip-Martin und Live-Martin ist weird. Man merkt, dass er lieber auf ner Bühne stehen würde.
Martin erzählt Allgemeinkram zur Geschichte der Hugo-Awards. Finde ich gut, sowas am Anfang zu machen. Davon gab es mir letztes Jahr auch zu wenig. Man kann ja am Anfang mal seinen Bildubgsauftrag gegenüber jüngeren Fans ernstnehmen. Ganz drollig, wie er versucht, witzig zu sein.
Dann kommt der erste Award und die Stimmung kippt direkt. Wir erinnern uns: der Campbell-Award for Best New Writer wurde letztes Jahr in Astounding-Award umbenannt, nachdem Gewinnerin Jeannette Ng auf der Bühne eine flammende Rede über Campbells politischen Hintergrund hielt.
Wie wird Martin sich dazu äußern? Zunächst... gar nicht. Martin schaltet zu Martin, Martin erzählt, wie dieser spezifische Award entstand (gut) und verbindet das mit persönlichen Worldcon-Anekdoten (ohje, hoffentlich macht er das nicht öfter), dabei betont er Campbells Bedeutung.
Den Namenswechsel übergeht er fast völlig. Er überbetont das Wort "Astounding", was extrem ironisch wirkt. Ich hoffe, er macht das nicht wieder (vergeblich, er wird es den ganzen Abend tun). Ng, die dieses Jahr für die Rede vom letzten Jahr nominiert ist, nennt er nicht.
Ich frage mich im weiteren Verlauf der Sendung noch oft, wie Ng sich jedes Mal fühlen muss, wenn er "a-STOUN-ding" überbetont und Campbell lobt (was er noch öfter tun wird). Sie ist eine junge Frau, sie ist nicht weiß, sie ist neu in der Szene. Was wird ihr gerade signalisiert?
Spoiler: was die Nacht über vor allem anderen signalisiert wird, ist, dass Martin seit zehn Jahren keine aktuelle Fiktion mehr gelesen hat. Er hat zu Ng nichts zu sagen, weil er weder sie noch ihr eh Buch nicht kennt. Das ist schade, für ihn und für uns.
Jetzt liest Martin die Nominierten vor. Ich cringe, weil er dieses minimale Stocken vor Namen hat, die nicht ganz so Englisch klingen. Nicht schlimm, aber merkbar - und vor allem unnötig. Ich meine, die Noms stehen seit Monaten fest. Ich an seiner Stelle hätte das einfach geübt.
Die Gewinnerin ist R. F. Kuang, die es auch nicht verdient hat, dass Martin den Award so komisch ausspricht. Ihre Rede ist kurz und schmerzhaft ehrlich, ein extremer Kontrast zu Martins Lobhudelei auf die Szene.

Wow, die Rede hat gesessen. Wird Martin was dazu... Nein, wir schalten direkt zu einem weiteren vorweg aufgenommenen Video, in dem er in Erinnerungen schwelgt. Der Bruch ist extrem, fast komisch. Da kann er nur bedingt was für, diese Einspielungen sind als Konzept unausgereift.
Die weitere Verleihung verbleibt in exakt diesem Wechselspiel. Martin erzählt persönliche Worldcon-Anekdoten, Gewinner:innen halten ehrliche, eindringliche, überaus politische Reden, auf die niemand eingeht. Man atmet auf, sobald eine Kategorie von Fans/Gästen anmoderiert wird.
Ich bin übermüdet, also seht mir nach, wenn ich die Chronologie nicht ganz hinbekomme, aber die Leseempfehlungen gehören natürlich auch in den Thread. Best YA ging an "Catfishing on CatNet" von Naomi Kritzer.
Nachdem Kuang es angesprochen hat, achtet man natürlich den Rest der Nacht besonders auf Aussprache. Und OMG, das Stocken vor den Namen wird nicht besser, eher schlimmer. Martin hätte jetzt die Chance, das in den Live-Segmenten selber anzusprechen. Aber ach, er tut es nicht...
For the record: nicht alles, was Martin über die Geschichte der Hugo-Awards erzählt, ist uninteressant. Wie die Kategorien entstanden, wie stark die Publikationspraxis sich gewandelt hat, alles super wichtig und total willkommen. Aber dann kippt es immer wieder ins Anekdotische.
Warum niemand ihn beiseite genommen hat und gesagt hat "George, Georgie, GRRRRRM, my man, eine Was-wir-danach-im-Hotel-gemacht-haben-Anekdote ist vollkommen ausreichend, streich die anderen" ist das Mysterium des Abends.
Längst nicht jede Kategorie wird hilfreich eingeführt. Martin nennt Graphic Stories Comics für Erwachsene und hat da natürlich auch ne Anekdote zu. Ich cringe.

Nnedi Okorafor gewinnt. Ich atme auf. Jede Minute Okorafor statt Martin ist ein Gewinn für alle.
Inzwischen ist es bei mir 03:00 nachts und ich frage mich, ob Martin die tapferen 800 Leute im Stream als GoT-Werbegag ermorden möchte. Tathergang: Die Formulierung "Heinlein - the Dean of Science-Fiction" wurde den Opfern wieder und wieder UND WIEDER gegen den Kopf geschlagen.
Ich bin sicher, er meint es nett. Ich bin sicher, er möchte den Leuten nahebringen, was er an der Szene so liebt. Aber ich bin müde und die meisten Leute, die heute nominiert sind, hätten sich auf den Parties damals unwillkommen gefühlt. Gibt es deshalb keine Le Guin Anekdote?
Ich meine, es wäre ein so guter Zeitpunkt, daran zu erinnern, dass es Frauen und PoC in der Szene gab. Dass sie in Martins Anekdoten nur am Rande vorkommen, spricht Bände darüber, wie sicher sie sich damals gefühlt haben.

Dass Martin sie nicht würdigt, ist mir ein Rätsel.
Good Omens gewinnt "Best Dramatic Presentation - Long Form" und Neil Gaimans Erinnerung an Terry Pratchett und dessen gespaltenes Verhältnis zu den Hugos (er gewann nie einen) ist die einzige Worldcon-Anekdote, die ich heute hätte hören müssen.
Nein, dieser Thread endet einfach nicht, genau wie diese Nacht einfach nicht enden wollte. Weil ich am Smartphone gucke, kann ich nebenher nicht twittern. Ich frage mich, ob das Internet mich morgen steinigt, wenn ich Martin furchtbar fand, und ob das alles in meinem Kopf ist.
Aber nun wird SF-Urgestein Robert Silverberg aus dem Hut gezaubert und muss 10 Minuten reden. Nicht der klügste Move - meine Generation kennt ihn vor allem als jemand, der Jemisins dritten Hugo-Sieg kritisiert hat, ohne sie gelesen zu haben. Warum also jetzt gerade er?
Wenn es ein Vermittlungsversuch ist, ist er gescheitert und wirkt eher wie eine Provokation. Silverberg könnte erzählen, wie es ist, so lange dabei zu sein und Veränderungen zu erleben. Er versucht es wohl und versichert den Fans, sie werden auch mal alt sein. Aber das war's.
Wenn die Idee war, alt und jung zusammenzubringen, ist das nach hinten losgegangen. Silverberg hat nicht wirklich was zu sagen, er will (oder darf?) nur seinen Run nicht unterbrechen, wirklich auf jeder Worldcon gewesen zu sein. Gleichzeitig kommen junge Leute nicht zu Wort.
Mary Robinette Kowal moderiert den Hugo für Best Series an. In kaum zwei Minuten führt sie vor, was hier schiefläuft. Sie kennt die nominierten Werke und zitiert aus jeder Reihe, ihr wechselnder Ton spiegelt die Grundstimmung der Bücher. Sie zelebriert die Gegenwart.
Das entlarvt dann auch mit einem Schlag, was sich an Martins Grundhaltung so unangenehm anfühlt:"Ihr seid Zwerge auf den Schultern von Riesen" ist eine beschissene Message für all die exzellenten Fans und Künstler:innen, die gerade nominiert sind, wenn sie von einem Riesen kommt.
Dass das Fandom an einem ganz anderen Punkt ist als diese Veranstaltung, zeigt der zweite Hugo für Jeannette Ng. Die Fans begrüßen und unterstützen damit die Umbenennung des Astounding-Awards und stärken Ng den Rücken. Sie ist outspoken und wundervoll.
Btw. muss auch niemand versuchen, es so darzustellen, als sei das alles ein Männer-Frauen-Problem. Das Autorenduo hinter The Expanse gewinnt Best Series, John Picacio gewinnt Best Professional Artist und beide halten angemessene und sympathische Dankesreden ohne jede Anbiederung.
Wir kommen zu den Final Four. Wenn ich Alkohol da hätte, wäre ich inzwischen unendlich betrunken. Martins gespielte Exzentrik langweilt, ich fühle mich um zehn Jahre gealtert. Beim Aussprechen nicht-englischer Namen macht er noch immer diese Pause. Ich möchte ihn anschreien.
Der Mann, der uns "Daenerys Targaryen" und "Myrcella Baratheon" eingebrockt hat, in einem Fandom, das "Ash nazg durbatulûk, ash nazg gimbatul" im Schlaf sagen kann, stockt, bevor er S. I. Huang sagt. Es ist mir peinlich. Wir haben dieses New Golden Age gerade gar nicht verdient.
Ob wir es verdienen oder nicht: Die Mathematikerin S. L. Huang (ihre Twitter-Bio sagt "rhymes with wrong" und ich musste sehr lachen) gewinnt trotzdem für ihre Kurzgeschichte "As the Last I May Know", die ihr hier lesen könnt: tor.com/2019/10/23/as-…
Jemisins "Emergency Skin" gewinnt Best Novelette. Es ist ihr vierter Hugo. Während Martin immer weiter über die große Geschichte der Worldcon spricht, übersieht er, wie hier und heute wiederholt Geschichte gemacht wird.
Jemisin ist offline. Sie hat ein prerecorded Video, das eingespielt wird und wirkt, als habe sie eigentlich besseres zu tun. Wir auch, N. K., wir auch!
Ich frage mich, ob man ihr auch diesmal vorwerfen wird, den Preis nicht respektvoll genug zu behandeln.

Der Name Harlan Ellison fiel heute mehrfach, immer augenzwinkernd, immer wohlwollend.

Parallele Gedanken, was weiß ich, warum...

Draußen jetzt Dämmerung.
"This Is How You Lose the Time War" gewinnt Best Novella. Niemand ist überrascht. Gladstone und El-Mohtar sind ein eingespieltes Team und wissen, was zu sagen ist und wie man sich kurz fasst.

Die beiden können gerne alle zukünftigen Hugos moderieren.
Inzwischen kann ich Martin einfach nicht mehr zuhören. Mir ist auch quasi egal, wer gewinnt. Alle Romane waren gut, nehmt einfach irgendeinen - denke ich, und dann wird Arkady Martine verkündet. "A Memory Called Empire" ist ihr Erstling.
Ich hab kein Video von ihrer Rede, bitte verlinkt sie hier, wenn ihr sie findet. Martine macht alles so richtig, dass ich vor Dankbarkeit in Tränen ausbrechen könnte. Sie möchte das Willkommen, das ihr als Nachwuchsautorin hier bereitet wird, auf alle ausweiten.
Die promovierte Historikerin spricht über den Druck, den Kultur ausüben kann, zentrales Thema ihres Romans, aber auch dieser Nacht. Sie nennt die gerade gesehene Veranstaltung nebenbei und ohne Anklage als Beispiel für das fragile Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Geistesgegenwärtig sammelt sie in ihrer Rede die losen Fäden ein und tut in kaum zwei Minuten, was eigentlich Martins Aufgabe gewesen wäre: sie vermittelt, sie kontextualisiert, sie blickt nach vorn, sie ist besonnen aber bestimmt. Ich bin hin und weg.
Und damit ist es vorbei, das letzte Röhren. Das für mich völlig überraschen kommende Aufbäumen einer rückwärtsgewandten und heldenfixierten Szene, die ich so gar nicht mehr kenne, ironischerweise vorgetragen von einem Mann, dessen Romane genau diese Art Heroismus dekonstruieren.
Die Worldcon-Organisation hat inzwischen eine Entschuldigung ausgesprochen und ich persönlich finde, das genügt. George R. R. Martin als Toastmaster schien wie eine gute und naheliegende Wahl und analog wäre vieles davon nicht passiert.
Aber nichts hätte den Bruch, der noch immer durch die Szene geht, besser sichtbar machen können. Die Sad Puppies wurden zwar gemeinsam rausgekickt und gegen Trump sind irgendwie alle, aber ich stimme Frank zu, es gab einen Paradigmenwechsel.

Darüber, wie diese Veränderung vor sich geht, konnte man letzte Nacht viel lernen.
Auch darüber, wie unterschiedlich die Wahrnehmung einer Szene sein kann. Coole Boys-Club-Erinnerungen vs. ständiges Auf-der-Hut-sein.
Und dass Bestsellerautoren nicht automatisch moderieren können.
Danke für die viele Rückmeldung auf einen Monsterthread, von dem ich dachte, er interessiert vielleicht drei Leute.

Ich liebe SFF, ich liebe SFF-Geschichte, aber noch mehr ihre Gegenwart. Ich liebe den Mut und die Kunstfertigkeit dieser ganzen neuen Generation. Lest sie!
Wenn ihr Science-Fiction der neuen Generation lesen wollt, und nicht wisst, wo ihr anfangen sollt, hier ist ein guter Startpunkt:

teilzeithelden.de/2019/11/22/rez…
Ich mache außerdem jedes Jahr eine Liste mit Kurzrezensionen zu allen Titeln der Shortlist, damit ihr euch die raussuchen könnt, die euch interessieren.
teilzeithelden.de/2018/08/26/hug…
Nachtrag 1: Cora Buhlert war eine der Finalistinnen, ist lange in dem Fandom und gibt hier eine sehr lesenswerte Innenperspektive.
Nachtrag 2: ich wollte GRRMs Richtigstellung komplett lesen, aber sie war mir zu lang. Badum tss!

file770.com/2020-hugo-awar…
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