My Authors
Read all threads
Interessensunterschiede zwischen Frauen und Männern. Oder: Was wir von Rhesusaffen mit Spielzeugautos über das Streben nach Geschlechterparität lernen können -- Ein Thread mit Daten

#parität #feminismus #gender #gleichberechtigung #psychologie #gesellschaft #mint (1)
(2) Parität zwischen den Geschlechtern wird zunehmend als Endziel von Gleichberechtigungspolitik gefordert. Im Bundestag, in DAX-Vorständen, in MINT-Berufen: In Schlüsselbereichen sollen Männer und Frauen 50/50 vertreten sein. Dann erst sei Gleichberechtigung wirklich erreicht.
(3) Die Logik der Parität basiert auf einer zentralen, aber meist impliziten These: dass Männer und Frauen dasselbe wollen. Wo keine Parität herrscht, muss folglich Benachteiligung im Spiel sein, die den natürlichen Zustand -- eine 50/50-Verteilung -- künstlich verzerrt.
(4) Damit das Streben nach Parität Sinn ergibt, muss diese These aber auch korrekt sein. Ist sie es nicht, wird Parität im besten Fall unkonstruktiv. Im schlechtesten Fall wären Maßnahmen zur Umsetzung von Parität dann selbst künstliche Verzerrungen freier Verteilungsprozesse.
(5) Was sagt also die Forschung zu Interessen von Frauen und Männern? Konzentrieren wir uns zur Illustration auf nur ein Beispiel, um die Grundproblematik zu zeigen: MINT-Berufe. Derselbe Mechanismus, mit anderen Interessen, verkompliziert Paritätsüberlegungen in allen Fragen.
(6) In Deutschland sind die MINT-Branchen laut Bundesagentur für Arbeit zu 84% männlich. Nur wenige Frauen entscheiden sich für diese Berufe. Aber warum? Spielen unterschiedliche Interessen zwischen den Geschlechtern bei dieser Ungleichverteilung eine Rolle? Die Antwort ist ja.
(7) Einer der größten psychologischen Geschlechtsunterschiede ist: Männer interessieren sich deutlich mehr für Dinge, Frauen deutlich mehr für Menschen. Natürlich gilt: Das ist eine Aussage über Mittelwerte in Gruppen, nicht über Individuen (DOI: 10.1111/j.1751-9004.2010.00320.x)
(8) Dass Frauen teilweise deshalb seltener MINT-Berufe wählen, weil sie personenzentrierte soziale Tätigkeiten präferieren, ist belegt. Studien zeigen deutlich den Zusammenhang zwischen Interessen und Ungleichverteilungen im MINT-Bereich (DOI: 10.3389/fpsyg.2015.00189)
(9) Man kann hier einwenden, dass verschiedene Interessen nur kulturelle Effekte sind und durch ungleiche Sozialisierung entstehen. Das stimmt. Eine Studie zeigt etwa, dass Mädchen Spielzeug danach auswählen, ob es als typisch weiblich gilt (DOI: doi:10.1016/j.appdev.2014.06.004)
(10) Insgesamt zeigt die Forschungslage aber, dass Dinge-Personen-Präferenzunterschiede eine signifikante evolutionsbiologische Grundlage haben. Dafür spricht etwa, dass der Unterschied offenbar kulturübergreifend und zeitunabhängig besteht (DOI: 10.1111/j.1751-9004.2010.00320.x)
(11) Zum anderen weisen Experimente dieselben Muster nach. Eine Studie mit 1,5-Jährigen zeigt, dass sowohl Mädchen als auch Jungen eine starke Präferenz für Spielzeuge haben, die solche Unterschiede spiegeln: Puppen (Menschen) und Autos (Dinge) (DOI: 10.1016/j.yhbeh.2012.08.008)
(12) Eine weitere Studie bestätigt diese geschlechtstypische Spielinteressen bereits bei 9 Monate alten Kindern. Bei so jungen Kindern kann Sozialisierung als Faktor weitgehend ausgeschlossen werden (DOI: 10.1002/icd.1986)
(13) Eine weitere Studie zeigt, dass diese Präferenzen durch pränatale Testosteronlevel mitbestimmt werden, also angeboren sind. Mädchen, die als Fötus ein höheres Androgenlevel hatten, spielen später mehr mit typisch männlichen Spielzeugen (DOI: 10.1111/j.1467-9280.2009.02279.x)
(14) In einem Experiment mit Neugeborenen -- also vor dem Beginn jeder Sozialisierung -- zeigt sich, dass weibliche Säuglinge sich länger auf Gesichter konzentrieren als männliche. Jungs konzentrieren sich dafür länger auf Mobiles (DOI: 10.1016/S0163-6383(00)00032-1)
(15) Der beste Hinweis auf die Rolle der Biologie stammt aber aus dem Tierreich. Studien mit Schimpansen und anderen Affen haben dieselben Ergebnisse wie bei Menschen. Auch kleine Rhesusaffen-Jungs spielen lieber mit Autos, Mädchen mit Puppen (DOI: 10.1016/j.yhbeh.2008.03.008)
(16) All das heißt nicht, dass Kultur unwichtig ist. Sozialisierung spielt eine große Rolle. Aber die Forschungslage macht eben auch deutlich, dass Männer und Frauen angeborene, biologische Interessensunterschiede haben. Die zentrale Annahme der Paritätsidee ist daher unhaltbar.
(17) Und weil die Annahme falsch ist, wird auch in einer völlig genderneutralen Gesellschaft keine MINT-Parität herrschen. Es gibt sogar eine (umstrittene) Studie, die zeigt, dass in sehr egalitären Ländern der Frauenanteil in MINT-Berufen sinkt (DOI: 10.1177/0956797620904134)
(18) Niemand weiß, wie eine unverzerrte, natürliche Verteilung im MINT-Bereich aussehen würde. 55/45? 67/33? Parität ist jedenfalls ein schlecht definiertes Ziel. Besser die vorhandenen kulturellen Rollenbilder beseitigen und Männer und Frauen dann selbst entscheiden lassen.
Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh.

Keep Current with Titiat Scriptor

Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

Twitter may remove this content at anytime, convert it as a PDF, save and print for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video

1) Follow Thread Reader App on Twitter so you can easily mention us!

2) Go to a Twitter thread (series of Tweets by the same owner) and mention us with a keyword "unroll" @threadreaderapp unroll

You can practice here first or read more on our help page!

Follow Us on Twitter!

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3.00/month or $30.00/year) and get exclusive features!

Become Premium

Too expensive? Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal Become our Patreon

Thank you for your support!