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Ich lese das Buch “Der Nürnberger Prozess” von Joe J. Heydecker, der 1945 als Gerichtsberichterstatter tätig war. Angeklagt sind die NS-Hauptkriegsverbrecher, die Anklage geht Schritt für Schritt die systematische Ausrottung der Juden durch und liest Zeugenaussagen vor. [THREAD]
Sir Hartley Shawcross, der britische Hauptankläger in Nürnberg, verliest die beeidete Aussage des deutschen Ingenieurs Hermann Friedrich Gräbe, der am 5. Oktober 1942 ein Baubüro in Dubno (Ukraine) besuchte und Zeuge des Massenmords wurde.
“Als ich am 5. Oktober 1942 das Baubuero in DUBNO besuchte, erzaehlte mir mein Polier Hubert MOENNIKES [...], dass in der Naehe der Baustelle in drei grossen Gruben von je etwa 30 Meter Laenge und 3 Meter Tiefe Juden aus Dubno erschossen worden seien. Man haette taeglich etwa
1500 Menschen getoetet. Alle vor der Aktion in Dubno noch vorhandenen etwa 5000 Juden sollten liquidiert werden. Da die Erschiessungen in seiner Gegenwart stattgefunden hatten, war er noch sehr erregt. Daraufhin fuhr ich in Begleitung von MOENNIKES zur Baustelle und sah in der
Naehe der Baustelle grosse Erdhuegel von etwa 30 Meter Laenge und etwa 2 Meter Hoehe. Vor den Erdhuegeln standen einige Lastwagen, von denen Menschen durch bewaffnete ukrainische Miliz unter Aufsicht eines SS-Mannes, getrieben wurden. Die Milizleute bildeten die Wache auf
den Lastwagen und fuhren mit diesen von und zur Grube. Alle diese Menschen hatten die fuer die Juden vorgeschriebenen gelben Flecken auf der Vorder- und Rueckseite ihrer Kleidung, so dass sie als Juden erkenntlich waren.
MOENNIKES und ich gingen direkt zu den Gruben. Wir wurden
nicht behindert. Jetzt hoerte ich kurz nacheinander Gewehrschuesse hinter einem der Erdhuegel. Die von den Lastwagen abgestiegenen Menschen, Maenner, Frauen und Kindern, jeden Alters, mussten sich auf Aufforderung eines SS-Mannes, der in der Hand eine Reit- oder Hundepeitsche
hielt, ausziehen und ihre Kleidung nach Schuhen, Ober- und Unterkleidern getrennt, an bestimmte Stellen ablegen. Ich sah einen Schuhhaufen von schaetzungsweise 800 bis 1000 Paar Schuhen, grosse Stapel mit Waesche und Kleidern. Ohne Geschrei oder Weinen zogen sich diese Menschen
aus, standen in Familiengruppen beisammen, kuessten und verabschiedeten sich und warteten auf den Wink eines anderen SS-Mannes, der an der Grube stand und ebenfalls eine Peitsche in der Hand hielt. Ich habe waehrend einer Viertelstunde, als ich bei den Gruben stand, keine Klagen
oder Bitten um Schonung gehoert. Ich beobachtete eine Familie von etwa 8 Personen, einen Mann und eine Frau, beide von ungefaehr 50 Jahren, mit deren Kindern, so ungefaehr 1-, 8-und 10-jaehrig, sowie 2 erwachsene Toechter von 20-24 Jahren. Eine alte Frau mit schneeweissem Haar
hielt das einjaehrige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor und kitzelte es. Das Kind quietschte vor Vergnuegen. Das Ehepaar schaute mit Traenen in den Augen zu. Der Vater hielt an der Hand einen Jungen von etwa 10 Jahren, sprach leise auf ihn ein. Der Junge kaempfte mit den
Traenen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihn ueber den Kopf und schien ihm etwas zu erklaeren. Da rief schon der SS-Mann an der Grube seinem Kameraden etwas zu. Dieser teilte ungefaehr 20 Personen ab und wies sie an, hinter den Erdhuegel zu gehen. Die
Familie von der ich hier sprach, war dabei. Ich entsinne mich noch genau, wie ein Maedchen, schwarzhaarig und schlank, als sie nahe an mir vorbei ging, mit der Hand an sich herunter zeigte und sagte "23 Jahre!". Ich ging um den Erdhuegel herum und stand vor dem riesigen Grab.
Dicht aneinandergepresst lagen die Menschen so aufeinander, dass nur die Koepfe zu sehen waren. Von fast allen Koepfen rann Blut ueber die Schultern. Ein Teil der Erschossenen bewegte sich noch. Einige hoben ihre Arme und drehten den Kopf um zu zeigen, dass sie noch lebten. Die
Grube war bereit dreiviertel voll. Nach meiner Schaetzung lagen darin bereits ungefaehr 1000 Menschen. Ich schaute mich nach den Schuetzen um. Dieser, ein SS-Mann, sass am Rand der Schmalseite der Grube auf dem Erdboden, liess die Beine in die Grube herabhaengen, hatte auf
seinen Knien eine Maschinenpistole liegen und rauchte eine Zigarette. Die vollstaendig nackten Menschen gingen an einer Treppe, die in die Lehmwand der Grube gegraben war, hinab, rutschten ueber die Koepfe der Liegenden hinweg bis zu der Stelle, die der SS-Mann anwies. Sie
legten sich vor die toten oder angeschossenen Menschen, einige streichelten die noch Lebenden und sprachen leise auf sie ein. Dann hoerte ich eine Reihe Schuesse. Ich schaute in die Grube und sah wie die Koerper zuckten oder die Koepfe schon still auf die vor ihnen liegenden
Koerper lagen. Von den Nacken rann Blut. Ich wunderte mich, dass ich nicht fortgewiesen wurde, aber ich sah, wie auch zwei oder drei Postbeamten in Uniform in der Naehe standen. Schon kam die naechste Gruppe heran, stieg in die Grube herab, reihte sich an die vorherigen Opfer an
und wurde erschossen. Als ich um den Erdhuegel zurueckging, bemerkte ich wieder einen soeben angekommenen Transport von Menschen. Diesesmal waren Kranke und Gebrechliche dabei. Eine alte, sehr magere Frau, mit fuerchterlich duennen Beinen wurde von einigen anderen, schon nackten
Menschen ausgezogen, waehrend 2 Personen sie stuetzten. Die Frau war anscheinend gelaehmt. Die nackten Menschen trugen die Frau um den Erdhuegel herum. Ich entfernte mich mit MOENNIKES und fuhr mit dem Auto nach Dubno zurueck.”

/end
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