My Authors
Read all threads
Ich lese das Buch “Der Nürnberger Prozess” von Leeb und Heydecker, der 1945 als Gerichtsberichterstatter tätig war. Angeklagt sind die NS-Hauptkriegsverbrecher, die Anklage geht Schritt für Schritt die systematische Ausrottung der Juden durch vor. [THREAD]
Rudolf Franz Ferdinand Höß, Lagerkommandant von Auschwitz, sitzt am 15. April 1946 als Kronzeuge im Zeugenstand und wird von mehreren Verteidigern der NS-Kriegsverbrecher befragt. Anschließend nimmt US-Ankläger John Harlan Amen den SS-Obersturmbannführer ins Kreuzverhör.
AMEN: “Zeuge, Sie haben auf Verlangen der Anklagebehörde eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, nicht wahr?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “Ich bitte, dem Zeugen Beweisstück 3868-PS, das US-819 wird, vorzulegen. Sie haben dieses Affidavit freiwillig unterzeichnet. Zeuge?”
HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “Und das Affidavit ist in jeder Hinsicht wahr?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “Dieses Dokument, Hoher Gerichtshof, liegt uns in vier Sprachen übersetzt vor. Über einige Angelegenheiten, die in dem Affidavit enthalten sind, haben Sie schon teilweise ausgesagt; ich
werde daher einige Teile des Affidavits auslassen. Wollen Sie mir bitte beim Verlesen folgen. Haben Sie ein Exemplar des Affidavits vor sich liegen?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “Ich lasse den ersten Absatz aus und beginne mit Absatz 2: ‘Seit 1934 hatte ich unausgesetzt mit der
Verwaltung von Konzentrationslagern zu tun und war in Dachau im Dienst bis 1938; dann als Adjutant in Sachsenhausen von 1938 bis zum 1. Mai 1940, zu welcher Zeit ich zum Kommandanten von Auschwitz ernannt wurde. Ich befehligte Auschwitz bis zum 1. Dezember 1943 und schätze, daß
2500000 Opfer dort durch Vergasung und Verbrennen hingerichtet und ausgerottet wurden (die Zahl hat er offenbar von Eichmann, Anm.); mindestens eine weitere halbe Million starb durch Hunger und Krankheit, was eine Gesamtzahl von ungefähr 3000000 Toten ausmacht. Diese Zahl stellt
ungefähr 70 oder 80 Prozent aller Personen dar, die nach Auschwitz geschickt wurden, die übrigen wurden ausgesucht und für Sklavenarbeit in den Industrien der KZ verwendet. Unter den hingerichteten und verbrannten Personen befanden sich etwa 20000 russische Kriegsgefangene (die
früher von der Gestapo aus Kriegsgefangenenlagern ausgesondert waren); diese wurden in Auschwitz in Wehrmachttransporten, die von regulären Offizieren und Mannschaften der Wehrmacht befehligt wurden, eingeliefert. Der Rest der Gesamtzahl der Opfer umfaßte ungefähr 100000 deutsche
Juden und eine große Anzahl meist jüdischer Einwohner aus Holland, Frankreich, Belgien, Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, Griechenland oder anderen Ländern. 400000 ungarische Juden wurden allein in Auschwitz im Sommer 1944 von uns hingerichtet.’ Ist das alles wahr, Zeuge?”
HÖß: “Ja, es stimmt.”

AMEN: “Ich lasse nun die ersten paar Zeilen des Absatzes 3 aus und beginne ungefähr in der Mitte: ‘Vor Errichtung des RSHA waren das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapo) und das Reichskriminalpolizeiamt für die Verhaftungen, Verschickungen in
Konzentrationslager und für die dort vollzogenen Bestrafungen und Hinrichtungen verantwortlich. Nach Bildung des RSHA wurden alle diese Funktionen wie bisher ausgeübt, aber gemäß den Befehlen, die von Heydrich als Chef des RSHA unterzeichnet waren. Während Kaltenbrunner Chef des
RSHA war, wurden die Befehle betreffend Schutzhaft, Verschickungen, Bestrafung und Sonderhinrichtungen von Kaltenbrunner oder von Müller, dem Leiter der Gestapo, als Kaltenbrunners Vertreter, unterzeichnet.’”

VORSITZENDER Geoffrey Lawrence: “Um ganz klar zu sehen: Ist das letzte
Datum im Absatz 2 1943 oder 1944?”

AMEN: “1944, denke ich. Zeuge! Ist das Datum am Ende des Absatzes 2 richtig, daß ‘allein in Auschwitz im Sommer 1944 400000 ungarische Juden hingerichtet wurden’? Heißt es 1944 oder 1943?”

HÖß: “1944. Zum Teil geht diese Zahl auch auf 1943
zurück; nur zum Teil. Die genaue Zahl kann ich nicht angeben; das Ende war 1944, im Herbst 1944.”

AMEN: “Gut. ‘4. Massenhinrichtungen durch Vergasung begannen im Laufe des Sommers 1941 und wurden bis zum Herbst 1944 fortgesetzt. Bis zum 1. Dezember 1943 beaufsichtigte ich
persönlich die Hinrichtungen in Auschwitz und weiß auf Grund meines laufenden Dienstes in der Inspektion der Konzentrationslager im WVHA, daß diese Massenhinrichtungen wie oben erwähnt fortgeführt wurden. Alle Massenhinrichtungen durch Vergasung fanden unter dem direkten Befehl,
unter der Aufsicht und Verantwortlichkeit des RSHA statt. Ich erhielt unmittelbar vom RSHA alle Befehle zur Ausführung dieser Massenhinrichtungen.’ Sind diese Erklärungen wahr und richtig, Zeuge?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “‘5. Am 1. Dezember 1943 wurde ich Chef des Amtes I im Amt
Gruppe D des WVHA, und in die sem Amt war ich verantwortlich für die Koordination aller Angelegenheiten, die sich zwischen dem RSHA und den unter der Verwaltung des WVHA stehenden Konzentrationslagern ergaben. Ich blieb in dieser Stellung bis zum Ende des Krieges. Pohl, als Chef
des WVHA, und Kaltenbrunner, als Chef des RSHA, hielten oft gemeinsame Beratungen ab und traten mündlich und schriftlich häufig in Angelegenheiten, die Konzentrationslager betrafen, miteinander in Verbindung [...] 6. Die ›Endlösung‹ der jüdischen Frage bedeutete die
vollständige Ausrottung aller Juden in Europa. Ich hatte im Juni 1941 den Befehl erhalten, in Auschwitz Vernichtungsmöglichkeiten einzurichten [...] Ich besuchte Treblinka, um festzustellen, wie die Vernichtungen ausgeführt wurden. Der Lagerkommandant von Treblinka sagte mir, daß
er 80000 im Laufe eines halben Jahres liquidiert hätte. Seine Aufgabe war hauptsächlich die Liquidierung aller Juden aus dem Warschauer Ghetto. Er hat Monoxydgas verwendet und ich hielt seine Methoden für nicht sehr wirksam. Als ich daher das Vernichtungsgebäude in Auschwitz
errichtete, nahm ich Zyklon B in Verwendung, eine kristallisierte Blausäure, die wir in die Todeskammer durch eine kleine Öffnung einwarfen. Es dauerte, je nach den klimatischen Verhältnissen, 3 bis 15 Minuten, um die Menschen in der Todeskammer zu töten. Wir wußten, wann die
Menschen tot waren, weil ihr Schreien aufhörte. Wir warteten gewöhnlich ungefähr eine halbe Stunde, bevor wir die Türen öffneten und die Leichen entfernten. Nachdem man die Körper herausgeschleppt hatte, nahmen unsere Sonderkommandos den Leichen die Ringe ab und zogen das Gold
aus den Zähnen dieser Leichname.’ Ist das alles wahr und richtig, Herr Zeuge?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “Nebenbei bemerkt: Was geschah mit dem Golde, das aus den Zähnen der Leichen entfernt wurde? Wissen Sie das?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “Wollen Sie es dem Gerichtshof sagen?”
HÖß: “Das Gold wurde eingeschmolzen und dem Sanitätshauptamt der SS in Berlin zugeführt.”

AMEN: ‘7. Eine andere Verbesserung gegenüber Treblinka war, daß wir Gaskammern bauten, die 2000 Menschen auf einmal fassen konnten, während die zehn Gaskammern in Treblinka nur je 200
Menschen aufnahmen. Die Art und Weise, in der wir unsere Opfer auswählten, war folgende:
Zwei SS-Ärzte waren in Auschwitz tätig, um die einlaufenden Gefangenentransporte zu untersuchen. Die Gefangenen mußten an einem der Ärzte vorbeigehen, der bei ihrem Vorbeimarsch sofort die
Entscheidung fällte. Die Arbeitsfähigen wurden ins Lager geschickt. Andere wurden sofort in die Vernichtungsanlagen geschickt. Kinder in sehr jungen Jahren wurden stets vernichtet, da sie auf Grund ihrer Jugend unfähig waren, zu arbeiten. Noch eine andere Verbesserung gegenüber
Treblinka war, daß in Treblinka die Opfer fast immer wußten, daß sie vernichtet werden sollten, während wir uns in Auschwitz bemühten, die Opfer zum Narren zu halten, und sie im Glauben zu lassen, sie hätten ein Entlausungsverfahren durchzumachen. Natürlich erkannten sie auch
häufig unsere wahren Absichten, und wir hatten aus diesem Grunde manchmal Aufruhr und Schwierigkeiten. Sehr häufig wollten Frauen ihre Kinder unter den Kleidern verbergen, aber wenn wir sie fanden, wurden die Kinder natürlich zur Vernichtung geschickt. Wir sollten diese
Vernichtungen im geheimen ausführen, aber der faule und Übelkeit erregende Gestank, der von der ununterbrochenen Körperverbrennung ausging, durchdrang die ganze Gegend, und alle Leute, die in den umliegenden Gemeinden lebten, wußten, daß in Auschwitz Vernichtungen im Gange
waren.’ Ist das alles wahr und richtig?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “[...] Ich frage Sie jetzt, Zeuge, ist alles, was ich Innen vorgelesen habe, wahr nach Ihrem besten Wissen?”

HÖß: “Jawohl.”

AMEN: “Das schließt mein Kreuzverhör ab [...].”
Höß wurde nach seinem Auftreten in Nürnberg Ende Mai 1946 an Polen ausgeliefert worden. Am 2. April 1947 verurteilte ihn das polnische Oberste Volksgericht zum Tode; vierzehn Tage später wurde das Urteil in Auschwitz durch den Strang vollstreckt.

/end
Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh.

Keep Current with Jürgen Klatzer

Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

Twitter may remove this content at anytime, convert it as a PDF, save and print for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video

1) Follow Thread Reader App on Twitter so you can easily mention us!

2) Go to a Twitter thread (series of Tweets by the same owner) and mention us with a keyword "unroll" @threadreaderapp unroll

You can practice here first or read more on our help page!

Follow Us on Twitter!

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3.00/month or $30.00/year) and get exclusive features!

Become Premium

Too expensive? Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal Become our Patreon

Thank you for your support!