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Ich lese das Buch “Der Nürnberger Prozess” von Joe J. Heydecker, der 1945 als Gerichtsberichterstatter tätig war. Angeklagt sind die NS-Hauptkriegsverbrecher, die Anklage geht Schritt für Schritt die systematische Ausrottung der Juden durch und liest Zeugenaussagen vor. [THREAD]
Im Prozess wird der 1945 verfasste Bericht von SS-Obersturmführer Kurt Gerstein zitiert. Gerstein hielt sich im August 1942 im Vernichtungslager Belzec (Polen) auf und beobachtete die Ermordung eines Transports Lemberger Juden in den Gaskammern des Lagers.
“Am anderen Tage fuhren wir nach Belcec [...] Ich sah an diesem Tag keine Toten, nur der Geruch der ganzen Gegend im heißen August war pestilenzartig, und Millionen von Fliegen waren überall zugegen. Dicht bei dem kleinen zweigleisigen Bahnhof war eine große Baracke,
die sogenannte Garderobe, mit einem großen Wertsachenschalter. Dann folgte ein Zimmer mit etwa 100 Stühlen der Friseurraum. Dann eine kleine Allee im Freien unter Birken, rechts und links von doppeltem Stacheldraht umzäunt mit Inschriften: Zu den Inhalier- und Baderäumen! Vor
uns eine Art Badehaus mit Geranien dann ein Treppchen, und dann rechts und links je 3 Räume 5 X 5 Meter, 1,90 Meter hoch, mit Holztüren wie Garagen. An der Rückwand, in der Dunkelheit nicht recht sichtbar, große hölzerne Rampentüren. Auf dem Dach als ‘sinniger, kleiner Scherz’
der Davidstern. Vor dem Bauwerk eine Inschrift: Hackenholt-Stiftung - Mehr habe ich an jenem Nachmittag nicht sehen können.
Am anderen Morgen kurz vor sieben kündigt man mir an: In zehn Minuten kommt der erste Transport! Tatsächlich kam nach einigen Minuten der erste
Zug von Lemberg aus an. 45 Waggons mit 6700 Menschen, von denen 1450 schon tot waren bei ihrer Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voller Todesangst, ferner Männer und Frauen. Der Zug fährt ein:
200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus den Waggons heraus. Ein großer Lautsprecher gibt die weiteren Anweisungen: Sich ganz ausziehen, auch Prothesen, Brillen usw. Die Wertsachen am Schalter abgeben, ohne Bons oder Quittung.
Die Schuhe sorgfältig zusammenbinden (wegen der Spinnstoffsammlung), denn in dem Haufen von reichlich 25 Meter Höhe hätte sonst niemand die zugehörigen Schuhe wieder zusammenfinden können. Dann die Frauen und Mädchen zum Friseur, der mit zwei, drei Scherenschlägen die ganzen
Haare abschneidet und sie in Kartoffelsäcken verschwinden läßt. ‘Das ist für irgendwelche Spezialzwecke für die U-Boote bestimmt, für Dichtungen oder dergleichen!’, sagt mir der SS-Unterscharführer, der dort Dienst tut. Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Voran ein
[...] Mädchen, so gehen sie die Allee entlang, alle nackt, Männer, Frauen, Kinder, ohne Prothesen. Ich selbst stehe mit dem Hauptmann [Christian, Anm.] Wirth oben auf der Rampe zwischen den Kammern. Mütter mit ihren Säuglingen an der Brust, sie kommen herauf, zögern, treten ein
in die Todeskammern! An der Ecke steht ein starker SS-Mann, der mit pastoraler Stimme zu den Armen sagt: ‘Es passiert euch nicht das Geringste! Ihr müßt nur in den Kammern tief Atem holen, das weitet die Lungen, diese Inhalation ist notwendig wegen der Krankheiten und Seuchen.’
Auf die Frage, was mit ihnen geschehen würde, antwortet er: ‘Ja, natürlich, die Männer müssen arbeiten, Häuser und Chausseen bauen, aber die Frauen brauchen nicht zu arbeiten. Nur wenn sie wollen, können sie im Haushalt oder in der Küche mithelfen.’ Für einige von diesen Armen
ein kleiner Hoffnungsschimmer, der ausreicht, daß sie ohne Widerstand die paar Schritte zu den Kammern gehen - die Mehrzahl weiß Bescheid, der Geruch kündet ihnen ihr Los! So steigen sie die kleine Treppe herauf, und dann sehen sie alles. Mütter mit Kindern an der Brust,
kleine nackte Kinder, Erwachsene, Männer, Frauen, alle nackt - sie zögern, aber sie treten in die Todeskammern, von den anderen hinter ihnen vorgetrieben oder von den Lederpeitschen der SS getrieben. Die Mehrzahl ohne ein Wort zu sagen. Eine Jüdin von etwa 40 Jahren, mit
flammenden Augen, ruft das Blut, das hier vergossen wird, über die Mörder. Sie erhält 5 oder 6 Schläge mit der Reitpeitsche ins Gesicht vom Hauptmann Wirth persönlich, dann verschwindet auch sie in der Kammer. Viele Menschen, beten. Ich bete mit ihnen, ich drücke mich in eine
Ecke und schreie laut zu meinem und ihrem Gott. Wie gerne wäre ich mit ihnen in die Kammer gegangen, wie gerne wäre ich ihren Tod mitgestorben. Sie hätten dann einen uniformierten SS-Offiziere in ihren Kammern gefunden - die Sache wäre als Unglücksfall aufgefaßt und behandelt
worden, sang- und klanglos verschollen. Noch also darf ich nicht. Ich muß noch zuvor künden, was ich hier erlebe! Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken - so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700-800 auf 25 Quadratmetern, in 45
Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt gebt. Die Türen schließen sich. Währenddessen warten die anderen draußen im Freien nackt. Man sagt mir: Auch im Winter genau so! Ja, aber sie können sich ja den Tod holen, sage ich. ‘Ja, grad for das sinn se
ja doh!’, sagt mir ein SS-Mann darauf in seinem Platt. Jetzt endlich verstehe ich auch, warum die ganze Einrichtung Heckenholt-Stiftung heißt. Heckenholt ist der Chauffeur des Dieselmotors, ein kleiner Techniker, gleichzeitig der Erbauer der Anlage. Mit den
Dieselauspuffgasen sollen die Menschen zu Tode gebracht werden. Aber der Diesel funktioniert nicht! Der Hauptmann Wirth kommt. Man sieht, es ist ihm peinlich, daß das gerade heute passieren muß, wo ich hier bin. Jawohl, Ich sehe alles! Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles
brav registriert. 50 Minuten, 70 Sekunden - der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich! Man hört sie weinen, schluchzen... Der Hauptmann Wirth schlägt mit seiner Reitpeitsche den Ukrainer, der dem Unterscharführer Heckenholt beim Diesel
helfen soll, 12-, 13mal ins Gesicht. Nach zwei Stunden 49 Minuten - die Stoppuhr hat alles wohl registriert - springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen 4 Kammern, viermal 750 Menschen in 4mal 45 Kubikmetern! - Von neuem verstreichen 25 Minuten.
Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht lebt das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammern einen Augenblick beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32 Minuten ist alles tot! Von der anderen Seite öffnen Männer vom
Arbeitskommando die Holztüren. Man hat ihnen - selbst Juden - die Freiheit versprochen und einen gewissen Promillesatz von allen gefundenen Werten für ihren schrecklichen Dienst. Wie Basaltsäulen stehen die Toten aufrecht aneinander gepreßt in den Kammern. Es wäre auch
kein Platz hinzufallen oder auch nur sich vornüber zu neigen. Selbst im Tode noch kennt man die Familien. Sie drücken sich, im Tode verkrampft, noch die Hände, so daß man Mühe hat, sie auseinander reißen, um die Kammern für die nächste Charge freizumachen.
Man wirft die Leichen naß von Schweiß und Urin, kotbeschmutzt, Menstruationsblut an den Beinen, heraus. Kinderleichen fliegen durch die Luft. Man hat keine Zeit. Die Reitpeitschen der Ukrainer sausen auf die Arbeitskommandos. Zwei Dutzend Zahnärzte öffnen mit Haken den Mund
und sehen nach Gold. Gold links, ohne Gold rechts. Andere Zahnärzte brechen mit Zangen und Hämmern die Goldzähne und Kronen aus den Kiefern.
Unter allen springt der Hauptmann Wirth herum. Er ist in seinem Element. Einige Arbeiter kontrollieren Genitalien und After nach
Gold, Brillanten und Wertsachen. Wirth ruft mich heran: "Heben Sie mal diese Konservenbüchse mit Goldzähnen, das ist nur von gestern und vorgestern!" In einer unglaublich gewöhnlichen und falschen Sprechweise sagt er zu mir:
‘Sie glauben gar nicht, was wir jeden Tag finden an Gold und Brillanten.’”

/end
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