Warum braucht jemand, der glaubt, gesunden Menschenverstand? Ein paar Basics am Sonntagmorgen. (1/12)
Common sense ist das Gegenteil von extrem und subjektiv. Lösungen auf Basis des Alltagsverstands begeistern nicht, sie transzendieren nicht die innerweltliche Perspektive. Auf den ersten Blick hat common sense also nicht viel mit Religion zu tun. (2/12)
Allerdings: Wenn es um Alltagsprobleme geht, finden Religionen oft überraschend pragmatische Regelungen. Wer Luthers Kleinen Katechismus kennt, weiß den Wert seiner trocken-menschenfreundlichen Ratschläge zu schätzen. (3/12)
„Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unseren Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten …, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“ (8. Gebot) Das ist weitab von moralischem Furor und konfessorischer Religiosität. (4/12)
Klar ist: Es geht in der religiösen Alltagsethik nicht um die große philosophische Auseinandersetzung zwischen Glaube und Vernunft. Die lässt sich nämlich mit alternativen Ansätzen gelegentlich ganz sinnvoll unterlaufen. (5/12)
Etwa mit der theologischen Figur, dass man das „Gesetz“ (Gottes Gebote) auf unterschiedliche Weise gebrauchen kann: In seiner politischen Form regelt es zwangsbewehrt das Zusammenleben unperfekter Individuen – tödlich vernünftig zuweilen. (6/12)
Aber eigentlich soll das Gesetz erlösen, meint Paulus. Wer sein Leben in Gottes Perspektive führen will, sollte alles, was er fordert, vollkommen freiwillig und aus Liebe tun. Und immer noch mehr: (7/12)
Theologisch verstanden, gibt uns das Gesetz vor, alle Menschen, auch den Gewaltverbrecher bedingungslos zu lieben. Das schafft niemand. So gesehen, ist das Gesetz die moralische Hölle. Die Reformatoren (hier sind wir wieder bei Luther) sehen einen dritten Weg: (8/12)
Wer glaubt, kann das Gesetz angstfrei als hilfreiches Werkzeug nutzen. Nach Maßgabe ihrer religiösen Spannkraft entscheiden Glaubende selbst, welches Verhalten für sie und für andere Gottes Liebe repräsentiert. „Wer glaubt, schafft [jeweils] neue 10 Gebote“ – (9/12)
diese Folgerung aus Luthers Freiheitsschrift ist eine dramatische Ermächtigung des Subjekts. Allerdings nicht zu schrankenloser Subjektivität, sondern zu vernünftigen und allgemein dienlichen Orientierungen. Hier folgt Luther Paulus, der das immer wieder betont (s. Phil 4,9). /10
Eine religiös begründete common-sense-Moral hat große Vorteile für die Gesellschaft. Sie wurzelt in einer konkreten subjektiven und sozialen Paxis. Sie braucht nicht die faszinierende, aber intellektuell steinige Absicherung durch eine Dialektik der praktischen Vernunft. (11/12)
Wenn in modernen Gesellschaften Religiosität verdunstet, sind auch andere Motivationsquellen gefragt. Denn zivilisatorische Standards hängen davon ab,ob Menschen auch in Zukunft gewillt sind, in ihrem Verantwortungsbereich liebevoll-pragmatisch „alles zum Besten zu kehren“. 12/12

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