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19 Mar, 45 tweets, 22 min read
1/ Michael Stolleis | *20.7.1941 †18.3.2021
Lehrreich: sein Blick auf die Extreme in der deutschen Rechtsgeschichte
2/ Gerade wurden das DDR-Personal der Rechtsfakultäten 'abgewickelt' (in Jena durften 1 Zivilrechtler & 1 Kriminologe bleiben), da starb 1993 Theodor Maunz, dessen Lehrbuch "Deutsches Staatsrecht" @CHBeckRecht Generationen von Juristen ab 1951 geprägt hat (Foto: 10. Aufl. 1961).
3/ Friedrich Karl Fromme lobte in der F.A.Z. Maunz' 'positivistische Selbstbeschränkung', merkte aber auch an: "er beherrschte die Kunst des Weglassens".
4/ Noch dem Tod von Theodor Maunz tauchten allerdings nicht nur die üblichen Todesanzeigen auf...
5/ ...sondern auch ein Maunz-Nachruf von Gerhard Frey (Führer der damals mit der NPD verbündeten DVU) in seiner Wochenzeitung.
6/ Rechtsextremist G. Frey (Sehr geehrter, lieber Herr Doktor Frey") erfreute sich der Rechtsberatung durch einen der führenden bundesdeutschen Staatsrechtslehrer, ab 1958 Herausgeber eines Standardkommentars ('Maunz/Dürig/Herzog/Scholz').
7/ Wer der Vor-1945-Maunz war, wußte man spätestens seit seinem 1964 erzwungenen Rücktritt als bayerischer Kultusminister (mit Unterstützung aus Jena; ich sollte das mal vielleicht anderswo einmal aufschreiben...?). Wieviel Altes steckte noch im neuen Maunz?
8/ Als #Michael_Stolleis Ende 1993 in der F.A.Z. zum Fall Maunz schrieb, dabei Mitglieder der altehrwürdigen Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer vdstrl.de provozierend, kam es zum éclat.
9/ Stolleis' Beitrag über Maunz ist der letzte Beitrag des oben genannten @suhrkamp-Buchs "Recht im Unrecht".
10/ Una vox e pluribus - als #Stolleis über jenen #Maunz schrieb, dem nicht nur der Wille des Führers, sondern bereits dessen Wunsch einst Gesetz war: "Steine von links auf ein Staatsrechtler-Grab" überschrieb F.A.Z. den Leserbrief von Joseph H. Kaiser.
11/ Auch zum Hundertsten von Theodor Maunz schrieb #Michael_Stolleis in der F.A.Z. (Überschrift-Unterzeile: "Die Tapeten wechseln, das Recht gilt immer").
12/ Die "verquälte, vertuschende und in vielen Fällen auch ungerechte 'Vergangenheitspolitik'" beschäftigte Michael Stolleis zeitlebens. Er schrieb über den Vater des Landesbischofs Wolfgang Huber, Ernst Rudolf Huber, Autor von "Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches" (1939).
13/ Stolleis würdigte Hubers Leistung nach 1945 zum Hundertsten in der F.A.Z. vom 7. Juni 2003: "Es ändert nichts daran, daß sie wissenschaftlich höchste Bewunderung verdient und daß die Nachgeborenen noch lange von ihrem Reichtum zehren werden".
14/ Und Stolleis bemühte sich, dem "Wandervogel auf Irrwegen" Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er 1997 eine Bochumer Dissertation über Huber in der F.A.Z. vorstellte.
15/ Bei der Analyse des Rechts im Nationalsozialismus schaute Stolleis nicht nur zu den üblichen Verdächtigen in Berlin oder Kiel, sondern beispielsweise auch auf die Strafjustiz in Bremen; er wollte es stets en detail wissen, Grautöne erlaubt.
16/ An der Universität Frankfurt/M. war ein (jetzt diskutiertes) Pflichtfach NS-Zeit nicht erforderlich. Ein Staatsrechtlehrer wie Stolleis garantierte (etwa in mehrsemestriger Veranstaltung mit Bernhard Diestelkamp) die Auseinandersetzung mit dem NS-Recht. #Juristische_Schulung
17/ Ernst-Wolfgang Böckenförde in der F.A.Z. vom 24. März 1995 über seinen Kollegen Michael Stolleis (und zur Maunz-Kontroverse):
18/ Bei Michael Stolleis gab's keine Vorschußlorbeeren für 'die richtige Sache'. Das zeigt die Rezension (Foto: mir vorliegendes Stolleis-Typoskript) der Dissertation von Jürgen Meinck (später: Hessische Staatskanzlei), betreut vom Abendroth-Schüler Peter Römer und Helmut Ridder.
19/ Michael Stolleis hat sich früh mit den Staatsrechtslehren (und -lehrern) der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus beschäftigt. In einem kleinen Bändchen erschien 1972 die Carl-Schmitt-Abhandlung des dreißigjährigen Stolleis.
20/ Darin die Angaben zum Autor:
21/ "Arbeitet z. Z. an einer Untersuchung der Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht", ist im o.g. List-Taschenbuch über Stolleis zu lesen. Die Resultate seiner Untersuchung verbreitete und popularisierte einst auch die Bundeszentrale für politische Bildung @APuZ_bpb.
22/ Stolleis' Arbeit über Gemeinwohlformeln rezensierte Peter Häberle, Doktorvater in der Plagiatsaffäre Guttenberg, im selben Heft des "Archivs für öffentliches Recht", in dem auch Stolleis nebenan rezensierte; und auch Ernst Rudolf und Wolfgang Huber sind in der Rubrik dabei.
23/ Ein Extrakapitel wäre, wen und was und wie #Stolleis wissenschaftlich inspirierte. Brisante Themen, beispielsweise eine #fdGO-Rechtsprechungskritik (Seminararbeit 18.1.1980), Marxisten-Literaturliste: kein Problem, wenn die Argumentation stimmt.
24/ Da sind die "Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts", die Michael Stolleis mit seinem Frankfurter Kollegen Dieter Simon u.a. herausgab. Dort erschien die von Stolleis betreute Diss. Wolfgang Kohls über ein Gericht, das kaum einer kannte: das Reichsverwaltungsgericht.
25/ Stolleis-Schüler Wolfgang Kohl war nach Jura-Studium in Marburg/L. und Frankfurt/M. Autor des 1988 im @NomosVerlag-Verlag erschienen @KritischeJustiz-Bands über "Streitbare Juristen".
26/ Es gibt das häßliche Vorurteil, nach der deutschen Einheit 1990 sei nur die 'zweite Garnitur' als 'Aufbauhelfer' gen Osten gegangen, Leute, die im Westen nichts werden konnten. @BerlinerNotizen referierte das in der "Berliner Zeitung" vom 8. August 2014:
27/ Im Stab des Geschäftsführers des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger Franz Ruland kam auch der linke Stolleis-Schüler Wolfgang Kohl 1990 von Frankfurt am Main in die Frankfurt-Partnerstadt Leipzig. In Erfurt wurde er in NVA-Kaserne Geschäftsführer den LVA Thüringen.
28/ Nach Umbau wurde aus der NVA-Kaserne das Zentrum für Sozialversicherung in Erfurt, Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel gratuliert dem #Stolleis-Schüler, F. Ruhland (re.) ist zufrieden; die DDR/BRD-Rentenumstellung klappt hervorragend.
29/ Der Geschäftsführer der LVA Sachsen steht unter Korrutionsverdacht, Stolleis-Schüler W. Kohl nutzt die Gunst der Stunde, forciert eine Verwaltungsreform, und aus 3 LVA (Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) wird eine, die LVA Mitteldeutschland, Kohl deren Geschäftsführer.
30/ Michael Stolleis interessierte nach der deutschen Einigung die Rechtspraxis seines Schülers Wolfgang Kohl in Mitteldeutschland. Stolleis war bekannt für seine "Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland"; er war auch Experte für die Geschichte des Sozialrechts.
31/ Stolleis schrieb dazu nicht nur Fachliteratur, für Juristen. In der F.A.Z. vom 9. Juli 1983 enthielt die Tiefdruck-Wochenendbeilage "Bilder und Zeiten" seinen Rückblick auf ein Jahrhundert gesetzliche Krankenversicherung.
32/ Dort erschien auch (am 16. Juni 1989) sein Beitrag über hundert Jahre Rentenversicherung. "1976 gab es erstmal höhere Ausgaben als Einnahmen."
33/ Michael Stolleis zum Hundertsten der RVO in der F.A.Z. vom 14. Juli 2011: "Das Maschinenhaus des Sozialstaats".
34/ Michael Stolleis, von 1991 bis Ende 2009 Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, "Zur kritischen Funktion der Rechtsgeschichte": rewi.hu-berlin.de/de/lf/oe/hfr/d…
35/ Natürlich interessierte Stolleis auch, "Was Moorleichen erzählen" (Michael Stolleis über europäische Rechtsgeschichte in F.A.Z. vom 15. August 1990).
36/ Interessiert auch am #ius_potandi. Nachwort: Michael Stolleis.
37/ Antworten auf die #soziale_Frage auch in den vielen, vielen Rezensionen suchend.
38/ "Sozialwissenschaften im Studium des Rechts"? Heute antiquarisch (nicht 'examensrelevant'). Stolleis 1978 über Luxusverbote als Musterbeispiele für fehlgeschlagene Gesetzgebung. Jeder mag besser verdienen, nicht aber die #besserverdienenden.
39/ Am 22. Oktober 2012 referierte Stolleis (im Wintersemester 2012/2013 Gastprofessur in Jena) über "Rechtsstaat und Staatsunrecht im 20. Jahrhundert", mit verblüffenden Zitaten; und der Mahnung: der Rechtsstaat sei eine "von stets unvermuteter Seite gefährdete Errungenschaft".
40/ Deutsche Einigung: Beitritt nach Art. 23 Grundgesetz - oder gilt Art. 146 GG? 1990 unterzeichnete Michael Stolleis öffentliche Aufrufe für eine verfassungsgebende Versammlung (KJ, Jg. 23, Heft 2/1990, S. 263ff.).
41/ Verwiesen sei schließlich auf die Artikel, die @PBahners in der F.A.Z. vom 20. Juli 2001 und 18. Juli 2011 zum 60. und 70. Geburtstag von #Michael_Stolleis veröffentlicht hat...
42/ Traurig, daß @PBahners Stolleis nicht auch zum 80. Geburtstag gratulieren kann - sein Nachruf: Zum Tod von Michael Stolleis / Kalendergeschichten nach dem Nationalsozialismus faz.net/-gqz-a9t9f?GEP… via @faznet
43/ Vor der nächsten BK/MP-Konferenz... (Michael #Stolleis 2003 über "Erwartungen an das Recht")
44/ Günter Maschke ist wohl der beste lebende Carl-Schmitt-Kenner. Daß #Stolleis ihn in ein Doktoranden-Kolloquium einlud, zeigte Offenheit und Neugier. Interessiert an Ikonographie, diskutierte Stolleis 2006 im Frankfurter Literaturhaus mit Tilman Allert und Lorenz Lorenz Jäger.
45/ "Nach dem Abitur absolvierte er eine Winzerlehre" (@PBahners im F.A.Z.-Nachruf). In diesem Thread wurde an Stolleis als Herausgeber und Nachwortverfasser der Neuauflage "Ius potandi oder ZechRecht" verwiesen. Das Familienweingut betreibt heute Stolleis' jüngerer Bruder Peter.

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