Ich war neu in einer Einrichtung. Mein bisher schlimmstes Erlebnis in der Pflege. Ich hatte bis dahin nie eine schlimmere Form von Kontrakturen (steife Gelenke) gesehen.
Ein Thread… #etwaslängerSorry
1) Sie lag versteift, in Embryonalstellung im Bett, die Beine zusätzlich ineinander "verknotet".
Dazu mehrere Dekubiti (schlimme Wunden) an Steiß, Becken, an den Stellen wo die verknoteten Beine aufeinander drücken. Sie hat ununterbrochen gestöhnt.
2) Ich stand vor dem Bett und war entsetzt. Ich fragte ob sie immer so stöhnt. Antwort Fachkraft völlig desinteressiert: "ständig, das ist normal bei ihr"! Mir rutschte ein "willst du mich verarschen?" raus.
Mein erster Tag wo ich wütend ins Büro vom Chef gelaufen bin!
3) Ich habe den Hausarzt informiert und nunja, er war geschockt. Hinzuziehen von Wundexperten und ambulanten Palliativdienst wurde eingeleitet.
Statt Novalgin und Tavor gab's nun BTM. Das stöhnen ließ nach. Vor jeder Pflege und Wundversorgung, bekam sie zusätzlich BTM Nasenspray
4) Ich versuchte alles so ruhig und langsam zu machen wie ich konnte. Es war die Hölle für sie. Trotz BTM.
5) Die Frau war 8 Monate zuvor eingezogen. Saß zu dem Zeitpunkt noch im Rollstuhl, hat selbstständig gegessen und getrunken.
Wenn man unterbesetzt ist, bedeutet es, das pflegerische Leistungen nicht erbracht werden.
Das bleibt nicht ohne Folgen...
6) Menschen, die am ehesten einen Tag im Bett bleiben können, werden nicht in den Rollstuhl gesetzt. Erst nur 1-2x die Woche. Dann wird es immer häufiger. Der Übergang geht fließend. Und innerhalb ein paar Wochen wird man bettlägerig "gemacht" aufgrund Zeitmangel.
7) Wenn Menschen längere Zeit im Bett liegen müssen sie regelmäßig neu positioniert werden. Dies sollte alle 2-3 Stunden stattfinden. Je länger die Intervalle umso eher entstehen Wunden. Und Schmerzen.
Ebenso müssen ihre Gelenke bewegt werden.
8) Verharren sie zulange in der selben Position, versteifen diese Gelenke. (Kontrakturen). Kann ein Mensch das nicht mehr selbstständig, muss es von Pflegekräften übernommen werden.
Das gilt für alles.
Kannst du etwas nicht selbstständig, macht es jemand anderes für dich.
9) Dazu kommt, ältere Menschen können im Bett oft nicht alleine essen und trinken, oder sie verschütten was.
Also wird begonnen Essen anzureichen.
Brot und Mittagessen dauert seine Zeit. Ältere Menschen können nicht mehr so schnell essen.
10) Somit gibt's plötzlich das Mittagessen püriert, geht schneller. Rein und schlucken. Kurze Zeit später wird auch das Brot ersetzt durch Brei.
Meistens Grießbrei, morgens und abends.
Mir kommt es schon hoch wenn ich Grießbrei rieche.
11) Gerade bei Wunden ist Ernährung wichtig, der Körper benötigt Bausteine um arbeiten zu können. Für diese Frau bekam ich oft nicht mal 100ml Grießbrei als vollständige Mahlzeit. Manchmal wurde sie ganz vergessen und ich bekam von der Küche nur als Antwort: "gib ihr Pudding"
12)
Einer der vielen Tage wo ich wütend ins Büro vom Chef gelaufen bin. Geändert hat sich nichts.
13) Eine Helferin fragte mich, warum die Frau so "komisch" im Bett liegen würde. Ich habe es ihr erklärt. Sie hatte das noch nie gehört.
Ich frage sie wie lange sie schon in der Einrichtung arbeitet.
2 Jahre!
2 verdammte Jahre!
14) 2 Jahre Arbeit arbeiten am Menschen ohne zu wissen was man eigentlich tut.
Ich fragte ob Fortbildungen stattfinden. Keine einzige, in 2 Jahren!
Einer von vielen Tagen in denen ich wütend ins Büro vom Chef marschiert bin. Geändert hat es nichts.
15) Wie konnte es soweit kommen?
Fehlendes Personal sorgt dafür das Dinge wie in den Rollstuhl setzen nicht regelmäßig stattfindet. Ungelernte Pflegehelfer wissen nichts über Lagerungen, Bewegen von Gelenken, warum Ernährung wichtig ist und welche Folgen daraus resultieren
16) Aufgrund Zeitmangel stellen viele zu schnell auf Breikost um. Coolout und fehlende Fachkompetenz von Fachkräften sorgt für eine mangelnde ärztliche Versorgung bei Wunden und Schmerzen. Die Ärzte wissen oft nicht was los ist.
17) Das man unterbesetzt ist, ist in der Altenpflege kein Einzelfall. Es findet täglich statt. In der Einrichtung waren wir von 7 Tagen mindestens 5 Tage unterbesetzt. Jeder sollte jetzt 1 und 1 zusammenzählen und mal darüber nachdenken wie oft Menschen nicht ausreichend
18) mit den NÖTIGSTEN Dingen versorgt werden aufgrund Personalmangel und fehlenden Kompetenzen. Wir reden hier von Körperpflege, von Essen, Trinken, Ausscheidungen, Wundversorgung, Injektionen, Medikamentengabe. Von Bewegung!
Und das Tag für Tag, für Tag, für Tag.
19) Anmerkung: In der Einrichtung habe ich es keine 6 Monate ausgehalten. Es war ein großer, privater Träger mit Häusern in ganz Deutschland. Die Heimaufsicht war häufiger da als manche Mitarbeiter.
Geändert hat sich nichts.
20) 70 Bewohner leben in dieser Einrichtung!
Das Ganze war vor Corona.
Wie sieht es jetzt wohl aus?
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1) Stell dir vor es geht hier um dich, deine Eltern, Großeltern, Verwandte oder Freunde. Egal, JEDER kann von jetzt auf gleich zum Pflegefall werden, durch Krankheit, Unfall. Egal ob 25, 50, 75 oder 100 Jahre alt. Der Pflegebedürftigkeit ist dein Alter egal.
2) Pflegebedürftigkeit bedeutet das du auf Hilfe (fremder) Menschen angewiesen bist. Du sitzt vielleicht im Rollstuhl nach einem Unfall. Bist an Demenz erkrankt oder nach Schlaganfall bettlägerig. Oder zählst als "Genesen" nach Covid.