Thread by @lassessostehen

Die Forderung nach Klimaneutralität in Deutschland bis 2035 als Weg zum 1,5°C-Ziel ist sehr präsent, u.a. bei @FridayForFuture. Grundlage ist ein deutsches Rest-Emissionsbudget von 4,2 Gt CO2.
Leider ist das irreführend & zeigt die Probleme des Prinzips #FollowTheScience. 1/

Die Zahlen beruhen auf einem Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen, eines wissenschaftlichen Beratungsgremiums der Bundesregierung. Hier das Gutachten: umweltrat.de/SharedDocs/Dow… 2/

Klimaschulden - europäischer Wohlstand basiert auf 200 Jahren ungehemmter Selbstbedienung an der Atmosphäre, so bleibt kaum noch CO2-Spielraum für den Rest der Welt - werden dort anerkannt, aber als Kriterium für CO2-Budgets verworfen, weil als politisch chancenlos angesehen. 3/

Eine wesentliche Forderung der Klimagerechtigkeitsbewegung - wer historisch mehr emittiert und davon profitiert hat, muss zukünftig umso stärker Emissionen reduzieren, um anderen mehr Raum zu geben - wird damit vollständig beiseite gewischt. 4/

Das Gutachten argumentiert, dass für die Ziele (1,5° oder 1,75°) jeweils Pfade gewählt werden sollten, mit denen das Ziel zu 67% eingehalten werden kann. Es berechnet aber überhaupt kein Budget für eine 67%-Chance auf 1,5°C (vermutlich auch, weil politisch zu unrealistisch). 5/

So verspricht auch die von #FridaysforFuture und anderen zitierte Budgetgröße (4,2 Gt) nur zu 50% das 1,5°C-Ziel einzuhalten. Wo sonst wären wir zu so viel Glücksspiel bereit? 6/

(Das Gutachten selbst rechnet mit einem noch großzügigeren Budget von 6,7 Gt CO2 weiter, das mit einer 67%-Chance auf 1,75 °C gleichgesetzt wird. Das wird als kompatibel mit dem Pariser Vertrag definiert, weil "deutlich unter 2 °C".) 7/

Der Begriff der Klimaneutralität (~ Netto-Null) selbst ist schwierig, da er Spielraum lässt für int'l Ausgleichszertifikate, hypothetische Negativemissionen durch Science-Fiction-Technologien & Anrechnung unsicherer "natürlicher" Senken - als Ersatz für reale CO2-Vermeidung. 8/

Es fehlen in der Berechnung explizit auch Treibhausgasemissionen außer CO2, die laut Gutachten umgerechnet 13,6% Zuschlag auf die deutschen CO2-Emissionen ausmachen - also ein Siebtel mehr. 9/

Ebenso fehlen die massiv steigenden CO2-Emissionen aus internationalem Flug- und Schiffsverkehr, die wie üblich im klimapolitischen Nirvana verschwinden (aber trotzdem existieren). Zufällig die Sektoren, in denen keine klimafreundlichen technischen Alternativen bereitstehen. 10/

"Die Wissenschaft" ist also in diesem Fall ein Beratungsgremium der Bundesregierung, das klimawissenschaftliche Erkenntnisse mit bestimmten Werturteilen und Annahmen darüber, was politisch realistisch ist, zu einer Budgetkalkulation verarbeitet. 11/

Jedes CO2-Budget beruht auf streitbaren politischen Annahmen, das liegt in der Natur der Sache. Es gibt nicht die eine objektive "wissenschaftliche" Position dazu, der man folgen könnte. Deshalb ist es so wichtig, sich mit den Annahmen kritisch auseinanderzusetzen. 12/

Zusammengefasst: Dieses deutsche CO2-Budget (4,2 Gt) klammert also Klimaschulden genauso wie erhebliche Teile der realen Treibhausgasemissionen aus - und selbst dann verspricht es nur eine 50/50-Chance, das 1,5°C-Ziel einzuhalten. 13/

Klimaneutralität in Deutschland bis 2035 basierend auf diesem Buget ist realpolitisch sicher eine sehr radikale Forderung, aber eben weder eine Klimagerechtigkeitsposition noch eine objektive wissenschaftliche Position - und steht auch nicht für 1,5°C-kompatible Politik. 14/

Das klingt deprimierend, aber als Klimagerechtigkeitsbewegung können wir auch nach Überschreiten der 1,5 °C weiter für eine klimagerechte und solidarische Gesellschaft kämpfen. Dabei sollten wir Wissenschaft einbeziehen, aber sie kann uns nicht dorthin "führen". 15/ENDE