Sollen 16-Jährige in Zukunft wählen dürfen? Im Vorfeld der Bundestagswahl hat es diese alte Frage wieder einmal ins öffentliche Bewusstsein geschafft. Wann sind junge Menschen reif genug, um eigenständig an der Gesellschaft teilhaben zu können? Eine Forschungsperspektive. (1)
(2) Sagen wir: Jugendliche sollten wählen dürfen, sobald man ihnen (als Gruppe) das Potenzial für rationale, interessengeleitete, langfristige Entscheidungen zutrauen kann. Grundbedingung dafür ist ein für solche Entscheidungen ausreichend entwickeltes Gehirn. Hat man das mit 16?
(3) Wir wissen seit einiger Zeit, dass die Entwicklung des Gehirns weder mit 16 noch mit 18 Jahren, sondern erst mit rund 25 Jahren abgeschlossen ist. Als letztes fertig wird ausgerechnet der Präfrontale Cortex, den wir für rationales Handeln aller Art brauchen (siehe Bild). Q1
(4) Also fehlt es Jugendlichen an der nötigen Reife? Nicht unbedingt. Denn die verzögerte Entwicklung schmälert nicht in jedem Fall das kognitive Potenzial für rationales Handeln. Ab 16 Jahren können Jugendliche rein kognitiv mit Erwachsenen quasi vollständig mithalten (Bild).
(5) Ein Versuch mit komplexen ökonomischen Aufgaben findet z.B. rationaleres Verhalten bei Jugendlichen (U16) als bei Erwachsenen (Ü16). Jugendliche fällen dabei ihre Entscheidungen mit mehr informationen und besseren Kosten-Nutzen-Abwägungen. Ältere setzen eher auf Heuristik. Q3
(6) Aber: Betrachtet man Reife nicht rein kognitiv, sondern psychosozial, ändert sich das Bild. Unreifes limbisches System und Präfrontaler Cortex heißen: Schwächen bei Risikobereitschaft, Impulskontrolle, Regulierung von Emotionen, Peer-Pressure-Anfälligkeit, Sensation Seeking.
(7) Aus psychosozialer Sicht sind 16-Jährige daher viel unreifer als Erwachsene (Bild). Hier macht die Zeit bis 18 einen echten Unterschied. Das ist auch ein Hauptgrund, warum junge Menschen viel eher Drogen nehmen, zu viel trinken, gefährliche Dinge tun, Ärger machen etc. Q2
(8) Psychosoziale Reife braucht man insbesondere bei Augenblicksentscheidungen, wenn viel Emotion im Spiel ist, Druck, Anspannung oder Peer Pressure. Psychologen sprechen manchmal von "hot cognition". Hier treffen Jugendliche deutlich schlechtere Entscheidungen als Erwachsene.
(9) Bei "cold cognition" aber, wenn ruhige Deliberation und rationales Handeln auf Basis bekannter Informationen gefragt sind, stehen 16-Jährige den Erwachsenen in nichts nach. Die Gedankengänge, die zu vernünftigen Wahlentscheidungen führen, gehören wohl eher in diesen Bereich.
(10) Man kann jetzt einwenden, dass Wahlentscheidungen nicht nur logisches Denken (fluide Intelligenz), sondern auch Lebenserfahrung und Wissen (kristallisierte Intelligenz) voraussetzen. In diesen Bereichen erreichen wir tatsächlich erst um die 50 unsere besten Werte (Bild). Q4
(11) Wenn Sie Wissen und Erfahrung für zentrale Reifekriterien halten, könnten Sie eine Absenkung des Wahlalters also mit gutem Grund ablehnen. Man müsste dann aber die Frage anschließen, ob der Unterschied zwischen 16 und 18 Jahren da wirklich einen relevanten Unterschied macht.
(12) Wenn es Ihnen eher um allgemeine kognitive Leistungskraft geht und die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen und in rationale Entscheidungen umzusetzen, dann steht einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre aus Sicht der vorgestellten Forschung erst einmal wenig im Weg.

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