Verschiedene Exponenten der Coronabewegung stellten nach der Demo vom letzten Donnerstag in Bern zwei Behauptungen zum Hergang der Ereignisse auf. Diverse Medien haben sie übernommen.

Überprüft wurden diese Behauptungen bisher von niemandem. Wir haben es gemacht. Ein Thread.
Behauptung 1: Die Leute welche am Bundeshauszaun rüttelten, seien Agents Provocateurs / Linke / "die Antifa" / etc. gewesen.
Diese Behauptung wurde unter anderem von Lukas Reimann in der Arena, von Nicolas Rimoldi auf Twitter, sowie von diversen Usern auf Telegram verbreitet.
Von den Ereignissen am Bundeshauszaun existiert viel Videomaterial. Nachfolgend eine Analyse einiger Sequenzen.
Video 1:
Hier sieht man mehrere Personen die am Zaun rütteln. Währenddessen ertönt eine Durchsage der Polizei, in der sie zur Unterlassung auffordert und den Einsatz von "Mitteln" (Wasserwerfer, Reizgas, etc.) androht. Diese Sequenz geschah also noch vor dem ersten Mitteleinsatz.
Interessant an dieser Szene ist, dass mindestens zwei der vier Personen in dieser Situation eindeutig der Coronabewegung zugeordnet werden können. Eine davon rüttelt aktiv am Gitter.
Und zwar der Telegram-User "Toto Woto 9". Dieser war bereits an der Auseinandersetzung am Bärenplatz beteiligt. Als die Gegendemonstration dort die Strasse blockierte, half der sehr aggressiv auftretende Mann, sie zu "bekämpfen". Damit prahlte er später in einem Telegram-Chat.
Dass es sich um die gleiche Person handelt, kann übrigens aufgrund der Profilbilder des Telegram-Users belegt werden. Wir stützen uns nicht nur auf die verschwommenen Bilder vom Bärenplatz.
Ebenfalls identifiziert werden kann der Mann im Hintergrund mit dem Filzhut und der Schweizerfahne. Nebst der Tatsache, dass er kaum ein "Antifa" sein dürfte, findet man ihn in einem Livestream wieder. Er lief beim Käfigturm neben den Trychlern (Quelle: ).
Video 2:
Das Video aus dem auch die obige Szene stammt, schneidet nach der Rüttelszene weiter zu zwei nachfolgenden Sequenzen. Diese zeigen das Werfen von Gegenständen und den Einsatz des Wasserwerfers.
Um die Personen die Gegenstände werfen, stehen viele weitere Menschen. Die meisten sind eindeutig der Coronademonstration zuzuordnen. Sie verhalten sich zumeist passiv, einige schreien in Richtung der Polizei. Leute die aus der Menge heraus Gegenstände werfen, werden ignoriert.
Ein "Zuschauer" ist auch Andy Benz, der Freiheitstrychler der in der letzten Arena auftrat. Einige Meter neben ihm wirft eine Person einen Gegenstand auf die Polizei.

(Rechts ein Bild von Benz zu einem früheren Zeitpunkt der Demonstration)
Die Freiheitstrychler sagten in einer Pressemitteilung vom Freitag, dass sie während der Auseinandersetzungen "darum bemüht" gewesen seien, "das Gitter vor diesen unvernünftigen Leuten zu schützen".
Die Reaktion von Benz entspricht dem nicht: Er wendet sich ab und läuft davon.
Video 3:
Hier ist der selbe Moment wie in Video 1 zu sehen. Das Video verdeutlicht, dass es sich keineswegs um eine kleine, von der Hauptdemo abgegrenzte Minderheit handelte. Zudem straft es die Behauptung der Freiheitstrychler Lügen, wonach sie das Gitter "geschützt" hätten.
Zusammenfassend ist es äusserst unwahrscheinlich, dass es sich bei den agitierenden Personen um "Agents Provocateurs" handeln dürfte. Am Bärenplatz, in der Marktgasse und am Bundesplatz wurden missliebige Personen von den leuchtbewesteten Trychler-Securities mit Härte geräumt.
Bei den Personen die hier drum rum stehen, scheint das Verhalten der angeblichen "Antifas" aber keinerlei Missfallen auszulösen. Im Gegenteil: Viele Leute grölen mit, die Trychler-Security schaut zu. Hätte diese Leute tatsächlich niemand gekannt, wäre das wohl nicht so verlaufen.
Den selben Eindruck erhält man, wenn man weitere Videos der Ereignisse am Bundesplatz anschaut. Hier ein paar Links, zur eigenen Überprüfung:
1. (Quelle 1 der obigen Videos)
2. (Quelle 2 der obigen Videos)
3.
Während es also harte Beweise dafür gibt, dass es sich zumindest bei einigen der an der Auseinandersetzung involvierten Personen um Coronademonstrant*innen handelte, gibt es für die Behauptung, dies seien Agents Provocateurs gewesen, noch nicht einmal wage Indizien.
Das hielt Reimann, Rimoldi und Co. aber nicht davon ab, genau diese frei erfundene Behauptung zu verbreiten. Wer in den einschlägigen Telegram-Chats verkehrt, weiss: Gäbe es tatsächlich Beweise, wären diese längst aufgetaucht.
Behauptung 2: Der Sicherheitsdienst der Freiheitstrychler sein von Gegendemonstrant*innen angegriffen worden.
Diese Behauptung wurde von den Freiheitstrychlern in ihrer Pressemitteilung aufgestellt. Mehrere Medien und Exponent*innen der Coronabewegung übernahmen sie unhinterfragt
Zu dieser Auseinandersetzung existieren zwei Videos. Das erste wurde von "Nau" veröffentlicht. Es zeigt die Ereignisse kurz nach ihrem Beginn und hört kurz vor ihrem Ende auf.
Das zweite Video wurde vom Coronademonstranten "Mensch Roger" erstellt. Es zeigt die ganze Auseinandersetzung.

(Alle gepixelten Videos und Bilder im Thread wurden btw von uns bearbeitet)
Wie auf beiden Videos ersichtlich ist, steht an der Ecke Bundesplatz-Amthausgasse eine Blockade der Gegendemo. Gitter wurden aufgestellt. Dann treffen die Trychler-Securities ein, begleitet von einigen weiteren Coronademonstrant*innen.
Sie beginnen, die Gegendemo wegzuräumen. Zuerst reissen sie die Gitter weg, dann drängen sie mitten in die Gegendemonstration, die sich zu diesem Zeitpunkt grossteils passiv verhält.
Eine erste Eskalation passiert, als ein Coronademonstrant mit einem Schirm auf einen Gegendemonstranten losgeht. Es kommt zu einem Gerangel, der Gegendemonstrant fällt zu Boden.
Währenddessen schubsen die Trychler-Securities einzelne Gegendemonstrant*innen immer weiter zurück. Die Gegendemo skandiert derweil Parolen.

Die Situation ist aufgeheizt. Plötzlich rennt ein Grossteil der Gegendemonstration weg. Mehrere Coronademonstranten rennen hinterher.
Darunter ist auch Chrigi R., der Trychler-Security der unter der gelben Leuchtweste ein blaues T-Shirt trägt. Er war der vorderste der Coronademonstrant*innen und lief als erster direkt in die Gegendemo, um dort Leute weg zu stossen.
Während er die wegrennenden Gegendemonstrant*innen verfolgt, stürzt er plötzlich zu Boden. Als der Filmer bei ihm ankommt, blutet er aus dem Mund. Wie sich später herausstellen sollte, verlor er zwei Zähne bei dieser Auseinandersetzung.
Wie diese Verletzung zustandekam, bleibt aber unklar. Das vorliegende Videomaterial, welches auch die Freiheitstrychler für ihre Pressemitteilung verwendeten, lässt hier keine klaren Schlüsse zu. Im entscheidenden Moment schwenkt die Kamera weg.
Es lässt sich somit nicht sagen, ob sich Chrigi R. beim Sturz während der Verfolgung verletzte, oder ob dies zuvor geschah.
Was sich mit Sicherheit sagen lässt: Die Darstellung, dass die Gegendemonstration den Sicherheitsdienst "angegriffen" habe, greift deutlich zu kurz.
Die Gegendemonstration verhielt sich passiv, bis die Coronademonstrant*innen sie zu wegzuräumen begannen.

Dabei traten die Trychler-Securities eskalierend auf, stiessen Personen weg. Ein weiterer Coronademonstrant ging mit einem Schirm auf eine Person los.
Danach sind die Ereignisse unklar.

Eine differenzierte Betrachtung solcher Ereignisse ist aber wichtig, und sollte für berichtende Medien ein Mindeststandard sein. Konfliktsituationen wie diese entfalten oft eine Eigendynamik, die in sich komplex ist.
Diese Komplexität gilt es abzubilden. Wer dies nicht tut, wer stattdessen unhinterfragt die Darstellung einer Seite widergibt, betreibt mangelhaften Journalismus.

Die Primärquellen liegen frei verfügbar im Internet herum. Sie zu ignorieren ist eine aktive Entscheidung.

(Ende)
PS: Sowohl bei der Auseinandersetzung am Zaun, als auch bei jener mit der Gegendemonstration, gab es einzelne Personen, die deeskalierend Einfluss zu nehmen versuchten.
Das sollte erwähnt werden, zeigte aber beide Male nicht besonders viel Wirkung.
PPS: Differenzierung ist auch bei der Beurteilung der allgemeinen Situation angebracht. Von einem "Sturm aufs Bundeshaus" zu reden, ist klar übertrieben. Es ist auch nicht so, als hätte Bern nicht schon vergleichbare Situationen erlebt.
Was aber ein entscheidender Unterschied ist: Die Wut auf die Regierung (und das Bundeshaus als Symbol dafür), gab es so wohl noch bei kaum einer Demo. Das verändert die Risikoanalyse die die Polizei in so einem Moment wohl vornahm.
Auch in dieser Sache sollte jedenfalls gelten: Komplexität ist abzubilden. Nicht zu verstecken.
PPPS: Längster Thread ever. Ein Schoggistängeli und ein Weggli für die, die bis hierhin gelesen haben.

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