Eine Analyse der Unions-Niederlage beginnt bei d. Ursachen und nicht bei Forderungen (z.B. jetzt Frauenquote). Ich habe mir heute bei vielen (!) Tassen Kaffee Gedanken gemacht. Die schlechte Nachricht: Es läuft vieles falsch. Die gute Nachricht: Alles ist lösbar. #Thread (1/32)
1. Langfristige Ursachen für die Niederlage
1.1 Regierungsarbeit
1.1.1 Keine eigenen Vorhaben wegen der hohen SPD-Konzessionen nach Jamaika-Scheitern formuliert, umgesetzt und so positiv vermarktet (Als Gegennarrativ zur SPD: „Wir erzielten alles Gute in der Koalition“)
1.1.2 Einstellung der Regierungsarbeit durch Merkel ab spätestens 2018 mit der Abgabe des Parteivorsitzes, daher entstand der Eindruck einer Ermüdung der CDU
1.1.3 Keine positiven Initiativen durch unionsgeführte Ministerien und mit Seehofer einen Minister auf Abruf durchgezogen, dafür viele negative Schlagzeilen und gescheiterte Projekte ohne Folgen für die jeweiligen Minister
1.1.4 Sichtbare Handlungsversäumnisse in der Corona-Pandemie, weil man mit der MPK auf ein ungeeignetes Führungsinstrument setze, deshalb letzter Todesstoß für das CDU-Markenversprechen der „garantiert guten Regierungsarbeit“
1.2 Parteiorganisation
1.2.1 Zu lange mit der Neuwahl des Parteivorsitzenden gewartet (auch Corona geschuldet, aber auch aus falschen taktischen Überlegungen gewisser Flügel), daher kaum Zeit für die Profilierung des neuen Parteivorsitzenden seit Januar 2021
1.2.2 Eine inhaltliche Erneuerung, die aufgrund der absehbaren neuen Zeit nach der Merkel-Ära dringend erforderlich ist (Neues Grundsatzprogramm), ist in der jahrelangen Partei-Selbstbeschäftigung seit 2019 liegengeblieben
1.2.3 Seit 2013 (Riesenerfolg des Haustürwahlkampfs) keine Weiterentwicklung der Kommunikationsfähigkeit etabliert stattdessen ausruhen auf alten Erfolgen und Merkel-Bonus in den Umfragen, daher heute fast nur noch selbstschädigende Kommunikationsmaßnahen (z.B. Social Media)
1.2.4 Seit 2017 Verlust des Anschlusses an die Community in Social Media, unbeholfen und peinlich (Stichworte: Rezo, Memes, Bewegtbild-Kommunikation)
1.3 Parteistruktur
1.3.1 Keinen partizipativen Wahlmodus für die Kanzlerkandidatur geschaffen, daher glanzlose Bundesvorstands-Entscheidung, die zu einem massiven Vertrauensverlust in der Wählerschaft führte (Minus 6 Prozent in Umfragen, April 2021)
1.3.2 Auseinanderfallen von Parteivorsitz und Kanzlerschaft schwächte beide Machtpole, führte zu weniger kommunikativer Durchschlagskraft im Diskurs und zudem wurde der Amtsbonus aufgegeben.
1.3.3 Vollständige Ignoranz gegenüber den Hilferufen der Ostverbände angesichts jahrzehntelanger Stimmenverluste, denn hier zeigt sich seit Jahren die Entwicklung, die jetzt auch die West-CDU erfasst
1.3.4 Keine wirksame Antwort auf den Mitgliederschwund gefunden, der zu immer weniger Vernetzung in der Zivilgesellschaft und zu den Stammwählern führt
1.3.5 Keine stärkere und sichtbarere Partei-Einbindung der Jüngeren und der JU erreicht, um junge Mitglieder zu werben, zu motivieren und an die Partei zu binden, daher großer Verlust der Kampagnenfähigkeit an der Basis in diesem Wahlkampf
1.4 Fraktion
1.4.1 Keine frischen Gesichter in der Fraktion aufgebaut, da Besitzstandswahrung für arrivierte und altvordere Abgeordnete und Angst vor Veränderung
1.4.2 Vollständiges Ignorieren des bei Wählern steigenden Wunsches nach Transparenz gegenüber ihren Abgeordneten (Einkünfte und Nebentätigkeiten, Dialog, Verfügbarkeit) durch die Fraktionsführung
1.4.3 Systemisches Ignorieren von Bereicherungstendenzen und Verschlafen moderner Compliance-Regeln: Skandale um Maskendeals, Aserbaidschan-Connection etc. waren die Folge, deren Dreistigkeit der Protagonisten die Partei ins Mark erschütterten (mich auch!)
1.4.4 Keine personelle Korrektur des fortlaufend führungsschwachen und impulslosen Fraktionsvorstands
2. Kurzfristige Ursachen für die Niederlage
2.1 Kandidat
2.1.1 Entscheidung über den Kanzlerkandidaten war absehbar viel zu spät (April) und viel zu ruppig, glanzlos und schädigend
2.1.2 Positionierung war grundfalsch:
a. „Modernisierungsjahrzehnt“ als wahrgenommener CDU-Amtsinhaber ausrufen?
b. Überbetonung von NRW-Provinzialität (Bergmann etc.) als Kanzler für alle?
c. „Teamplayer und Brückenbauer-Image“ aber lange ohne ein Team auftretend?
2.1.3 Offenbar kaum Coaching und Kommunikationsberatung des Kandidaten
2.1.4 Keine Ausrichtung der Kampagne auf die Positionierung des Kandidaten, daher Kampagne und Kandidat fast vollständig disjunkt
2.1.5 In der Folge trat eine Überforderung des Kandidaten ein und verursachte vermeidbare Fehler (Lachen, falsche Seite der Geschichte, falsch gefalteter Stimmzettel etc.)
2.2 Kampagne
2.2.1 Zu später Beginn der vollständigen Kampagnenplanung und kaum gerichteter und planvoller Imageaufbau des Kandidaten für das Ziel der Kanzlerschaft am 26.09.
2.2.2 Zu späte und oberflächliche Entwicklung und Verabschiedung des Wahlprogramms, es war in der Kommunikation überhaupt nicht erkennbar, welche thematischen Schwerpunkte gesetzt wurden, welche drei-fünf Forderungen zentral für d. Wählerentscheidung zugunsten der CDU sein sollen
2.2.3 Keine zentrale „Kampa“ (da alternierend NRW-CDU und KAH), Beauftragung zweier Agenturen führte sicherlich zu höherem Koordinationsaufwand und zudem war keine kurzfristige Reaktionsfähigkeit auf überraschende Wahlkampf-Entwicklungen erkennbar (Trägheit!)
2.2.4. Falsche Strategie, da die Kampagne rein reaktiv angelegt war und zudem Scholz ignorierend bis sich Umfragen drehten, die Angriffskommunikation konnte dann aber nicht mehr wirken, weil es keinen nachhaltigen Imageaufbau von Partei und Kandidat gab
2.2.5 Keine breite Kommunikation der Unions-Erfolgsstorys aus der Regierungszeit (Prinzip: AEG = Aus Erfahrung gut), kein spürbarer Stolz auf das Erreichte, dabei war das genau die Herausforderung dieses Wahlkampfs: Nach 16 Jahren sagen, was man immer NOCH besser machen will
2.2.6 Unstrukturierter Aktionismus und Botschaften-Kakophonie am Kampagnenende, dadurch Steigerung der wahrgenommenen Profillosigkeit bei den Wählern
2.3 Konkurrenz
2.3.1 Bisher nie gekannte Verstärkung von Fehlern und Pannen des Kandidaten und anderer Beteiligter in Social Media durch Rechercheteams, die Video-Clips und Memes en masse produzierten (stiller Absender v.a. die SPD, aber auch Grüne und LINKE)
2.3.2 Asymmetrischer, diffamierender Negativ-Wahlkampf durch Campact, FFF und andere, inkl. Illegaler Adbusting- und False-Flag-Aktionen
2.3.3 Massive Ausweitung der Zerstörung oder Veränderung von Außenwerbung der Partei in diesem Wahlkampf, dadurch negative Wahrnehmung von Wählern im Straßenbild
2.3.4 Triell-Arithmetik (Rot-Grün gegen CDU, 2 gegen 1) erwies sich als fatal, besonders im dritten Triell, so konnte der Kandidat nicht punkten, man hätte weniger Termine vereinbaren sollen
2.3.5 Keine wirksame Gegenstrategie gegen das falsche SPD-Narrativ „CDU-Verschwörung“ nach der BMF-Durchsuchung durch StA
Ich appelliere an alle Parteifreunde: Schaut doch erstmal auf die Ursachen anstatt gleich roboterhaft die üblichen Forderungen und Debatten rauszuholen (Mitte/Rechtskurs der Union, Frauenquoten etc.). Erst wenn wir die Gründe begreifen, können wir es in der Zukunft besser machen.
PS: Die Aufstellung ist keineswegs abschließend. Da müssen auch noch weitere Punkte rein. Z.B. die "Klimaunion", die als programmatische Gruppierung die Marke "CDU" schädigt u. einen Mangel in diesem Kompetenzfeld suggeriert. Die Partei sollte sich von diesem Verein distanzieren.

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