Ich liebe ja unqualifizierte Laien, die mir erklären wollen, subjektive "Erfahrungen" wären eine der drei Säulen der Evidenz-basierten Medizin und deshalb müsste man die überwältigend negative Studienlage zur Homöopathie ignorieren.

Nein, Leute, so funktioniert EbM nicht.
Was sind die Säulen der Evidenz-basierten Medizin nach David Sackett?

- externe klinische Evidenz
- individuelle klinische Expertise
- Werte und Wünsche des Patienten

"Individuelle Expertise" wird auch als "Erfahrung" bezeichnet, das trifft den Kern des Ganzen m.E. aber nicht.
Evidenz ist wohl klar. Wenn für eine Maßnahme nachgewiesen wird, dass sie eine spezifische Wirksamkeit hat und anderen Verfahren überlegen ist, sollte diese Maßnahme durchgeführt werden.

Beispiel COVID-19. Es gibt exzellente Evidenz für Nutzen und Sicherheit der Impfstoffe.
Werte und Wünsche des Patienten.
Beispiel Krebserkrankungen.
Sagen wir mal, eine Patientin leidet unter einem beliebigen Karzinom. Evidenz sagt: "Chemotherapie, Bestrahlung, dann OP, dann noch mal Chemo".

Die Patientin lehnt die OP aber entschieden ab. Dann bindet uns das.
Was bedeutet nun "individuelle klinische Expertise"?

Zum einen: Überhaupt korrekte und adäquate Diagnosen stellen. Das kann schon schwer genug sein.

Zum anderen: Maßnahmen kompetent und sicher durchführen können. Intubation, ECMO, was auch immer. Das braucht Expertise.
Wenn Evidenz sagt: "Patienten mit XY profitieren von einer ECMO", dann braucht es meine Expertise, um zu erkennen, dass DIESER Patient hier an XY leidet und die ECMO sinnvoll ist, um die Therapie korrekt durchzuführen und potentielle Probleme zu antizipieren und zu beheben.
Aber natürlich muss ich auch erkennen, wenn die Evidenz in einem konkreten Fall nicht sinnvoll angewendet werden kann.
Zum Beispiel, weil ich zwar prinzipiell bei Krebserkrankung XY eine Chemotherapie durchführen würde, der Patient aber gerade eine komplikationsreiche Herz-OP
überlebt hat und *im Moment* noch nicht fit genug ist, um diese Chemotherapie überleben zu können.

Das bedeutet: Ich brauche meine individuelle Expertise, um abzuwägen, wie ich mit dieser Situation umgehe.

Welche Alternativen gibt es? Kann ich möglicherweise bestrahlen?
Oder ist es vertretbar, in diesem konkreten Fall einfach ein paar Wochen abzuwarten und die Chemo "nachzuholen", wenn der Patient wieder fit genug dafür ist?

Das sagt mir keine Evidenz. Dafür brauche ich klinische Erfahrung, und zwar viel davon.
Oder auch im obigen Beispiel, wenn die Evidenz-basiert empfohlene OP abgelehnt wird. Was mache ich stattdessen? Was ist für *diese* Patientin in *dieser* Situation die *richtige* Empfehlung im Hinblick auf ihre individuellen Wünsche, Vorstellungen und Werte?
Was ist individuelle klinische Erfahrung NICHT?

"Nehmen Sie für Ihre Migräne Globuli. Es gibt zwar keine Daten dazu, aber ich mache gute Erfahrungen damit. Und deshalb ignoriere ich die überwältigend negative Evidenz."

Das ist esoterisches Geschwurbel und eben KEINE EbM.

Fin.
Vielleicht noch eine Ergänzung.

"EbM ist keine Kochbuchmedizin", heißt es bei Cochrane.

Stimmt. So soll es nicht sein.

Leitlinien geben uns eine Orientierung. "So wird es *normalerweise* gemacht."
Und in vielen Fällen ist es tatsächlich sinnvoll, der Leitlinie zu folgen.
Und es ist auch per se völlig okay, wenn Ärzt:innen von Leitlinien abweichen.

Was ich dann aber von ihnen erwarte:
Eine Begründung. "Ich weiß, dass die Leitlinie es *so* empfiehlt, aber ich habe mich aus Aspekten A, B und C *bewusst* dagegen entschieden."
Ich finde nicht, dass Ärzt:innen in jeder Situation sklavisch und ohne eigenes Denken stumpfe Leitlinienautomaten sein sollten.

Aber Ärzt:innen *müssen* die für sie relevanten Leitlinien kennen und umsetzen *können*.
Aber nur weil jemand bspw. die für die Notfallmedizin relevanten Leitlinien auswendig gelernt hat, heißt das noch lange nicht, dass er:sie als Notärzt:in gute Arbeit leisten wird.

Weil Leitlinien (und die darin gesammelte Evidenz) eben nur EIN Teil des Ganzen sind.
Aber halt einer, der genau so unverzichtbar ist wie die anderen.

Ich kann keine gute Medizin machen, wenn ich die Evidenz ignoriere.
Wenn ich aber vor lauter Evidenz ignoriere, was mein:e Patient:in will, kann das auch keine gute Medizin werden.
Und wenn ich zwar auf die Evidenz höre und Wünsche meines Patienten berücksichtige, aber keine klinische Expertise habe, ist gute Medizin ebenso unmöglich umzusetzen.

Drei Säulen.
Und wenn man eine komplett wegnimmt, bricht das Gebäude zusammen.

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23 Oct
Wissenschaftlich ist es übrigens NICHT so, dass die Langzeitfolgen der Impfung unklar wären.

Sondern vielmehr so, dass es aktuell nicht mal eine annähernd plausible Erklärung dafür gibt, wie es überhaupt Langzeitfolgen geben KÖNNEN sollte.

Relevanter Unterschied.
Es hat noch nie in der Geschichte der Medizin einen Impfstoff gegeben, bei dem eine einmalige Verabreichung Jahre (oder auch nur Monate) später zu neu auftretenden Gesundheitsschäden geführt hätte.

Und nein, Narkolepsie bei Pandemrix zählt nicht.
Beobachtet wurde die Narkolepsie
schon kurz nach Beginn der Impfungen. Es hat nur aufgrund der relativ niedrigen Impfzahlen und der Seltenheit sehr lange gedauert, bis diese Nebenwirkung klar mit der Impfung in Verbindung gebracht werden konnte.

Bei mRNA ist, Stand heute, die relevanteste Nebenwirkung wohl die>
Read 6 tweets
11 Sep
Neues von der Inzidenz.

Die meisten meiner Follower wissen, dass ich Anästhesist und Intensivmediziner bin. Kein hauptberuflicher Statistiker.

Irgendwie habe ich aber trotzdem ein bisschen was von statistischen und epidemiologischen Zusammenhängen begriffen, bilde ich mir ein.
Teil 1 meiner Reihe "Stormy und warum die Inzidenz uns völlig genügt, um unser Handeln in der Pandemie zu steuern":



Teil 2 der Reihe:


Es ist nun Zeit für Teil 3.

Der heiße Shice ist ja nun die Hospitalisierungsinzidenz.
Warum die Hospitalisierungsinzidenz (und das m.E. politisch - wohl nicht vom RKI - *gewollt*) nicht geeignet ist, die Pandemie zu bewerten, hat u.a. @maewald hier aufgeschrieben.



Ich hab mal wieder Graphen gemalt. (Bzw malen lassen.)
Read 13 tweets
10 Sep
Ich möchte bitte die KV Nordrhein verdreschen.

Da gibt es also in einem Seniorenheim eine Impfaktion. 90 Menschen werden geimpft. 9 davon sind anschließend behandlungsbedürftig.

Ob dieser Behandlungsbedarf auch nur hypothetisch kausal mit der Impfung zusammenhängt, ist unklar.
Insbesondere gibt es nicht genug Informationen, um einzuschätzen, ob es hier zu einer Verschlechterung einer Grunderkrankung gekommen sein könnte, die den Behandlungsbedarf ausgelöst haben könnte.

Koinzidenz beweist halt keine Kausalität.
NACH Impfung heißt nicht WEGEN Impfung.
2 Menschen müssen reanimiert werden. Zum Glück wohl erfolgreich.
Irgendwo setzt ein Stille-Post-Effekt ein und plötzlich heißt es, alle 90 hätten schwere Impfreaktionen gehabt bis hin zur Reanimationspflicht, mindestens 3 seien gestorben.
Read 8 tweets
21 Aug
Was den Entscheidungsträgern gerade auf die Füße fällt, ist ihr monatelanges verlogenes Delirium davon, den Bürgern sei ein erneuter Lockdown nicht "zuzumuten" oder "nicht vermittelbar".

Wie jede gute selbsterfüllende Prophezeiung trifft sie mittlerweile zu.
Es rächt sich jetzt halt, dass die Bundes- und Landesregierungen den ganzen Sommer 2020 über kategorisch jeden Lockdown ausgeschlossen haben (weil "nicht vermittelbar"), aber dann pünktlich zu Weihnachten umkippen mussten, weil alternativ die Intensivstationen explodiert wären.
Ein harter, zeitlich begrenzter Lockdown im August 2020 hätte einerseits die Pandemie eingehegt und mutmaßlich 10.000e Tote vermieden, andererseits der Politik Spielraum belassen.

Man hat so lange Lockdowns als unverantwortliche, totalitäre Zwangsmaßnahme gebrandmarkt, dass...
Read 8 tweets
4 Apr
Warum es unvernünftig ist, Inzidenz, Todesfälle und Intensivbelegung als separate Kriterien für Lockerungen / Verschärfungen der Maßnahmen zu verwenden, die 648.425ste.

Quellen für meine Kalkulationen:
@risklayer. DIVI-Intensivregister.

Für die Berechnung der Inzidenz habe ich~
der Einfachheit halber mit genau 83 Mio. Einwohnern kalkuliert.
Das ist nicht ganz korrekt, das RKI kalkuliert mit 83,19 Millionen Einwohnern, ich halte die geringe Abweichung allerdings für verschmerzbar.

Was habe ich getan?
Simpel.

Inzidenz und Beatmungsfälle bzw Todesfälle~
jeweils gegeneinander aufgetragen.

Weil sich die jeweiligen Größenordnungen deutlich unterscheiden, habe ich jeweils "eigene" Y-Achsen verwendet.

Ich hoffe, ich füge keinem Statistiker damit körperlichen Schaden zu, so wird allerdings die Korrelation deutlicher.
Read 19 tweets
3 Apr
Die Bilder von #s0304 tun körperlich weh.

Ignorante, hasserfüllte Arschlöcher tanzen auf der Straße.
Und der Staat schaut mal wieder völlig indifferent zu.
Einzelne Polizisten verbrüdern sich mit diesen ignoranten, hasserfüllten Arschlöchern. Die anderen schauen zu. Korpsgeist.
Morgen werden die politisch verantwortlichen ignoranten Arschlöcher wieder rumblubbern, dass das ja nicht vorhersehbar gewesen wäre.

Und bei jeder weiteren Demo werden diese ignoranten, hasserfüllten Arschlöcher sich mehr trauen.

Weil die Politik sie bewusst ermutigt.
Und das ist halt die Quintessenz deutscher Pandemie"politik".

Man hätte SO VIELE MÖGLICHKEITEN.

Und man baut wider besseres Wissen am laufenden Band nur kontraproduktive Scheiße.
(Und die *könnten* es besser wissen. Wenn sie nur wollten. Bewusste Ignoranz ist keine Ausrede.)
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