Heute hat der Prozess um die Morde im #Oberlinhaus begonnen. In den Wochen nach der Tat wurde uns, den behinderten Menschen, die auf die inhärente Gewalt in stationären Einrichtungen aufmerksam machten, vom Sprecher des Oberlin Hauses Instrumentalisierung vorgeworfen. 1/13
Wir würden diese grausame Einzeltat und den Tod der vier Bewohner*innen für unsere Zwecke nutzen und instrumentalisieren, um Stimmung gegen stationäre Einrichtungen zu machen. Auf diese Weise können natürlich alle Stimmen, die sich seitdem gemeldet haben, negiert werden. 2/13
Der Prozess wird vielleicht an manchen Stellen Licht ins Dunkel bringen, vielleicht werden wir mehr über die Motive erfahren, lesen wie der vierfache Mord geschehen konnte. Die Beteiligten werden versuchen ihre Haut zu retten. Allem voran natürlich die Einrichtung. 3/13
Natürlich werden wir die Berichterstattung mitverfolgen, das Bild Stück für Stück zusammensetzen. Werden wir wirklich neues erfahren? Manches wissen wir doch schon: 4/13
Stationäre Einrichtung sind für Ihre Bewohner*innen meist totale Systeme. Sie sind komplett von Ihnen abhängig und können Sie ohne Hilfe des Systems nicht verlassen. Die Beziehungen innerhalb dieses Systems sind von Abhängigkeiten und Hierarchien geprägt. 5/13
Fehlende Augenhöhe, ein Mangel an Reflektion der eigenen Position, keine Auseinandersetzung mit dem Machtgefälle, kontrollierter Kontakt nach außen, fehlende Transparenz und Mitbestimmung plus Abhängigkeit und Ausgeliefert sein, das alles ist Nährboden für Gewalt. 6/13
Diese Gewalt, die totalen Systemen inhärent ist, tief in den Strukturen von stationären Einrichtungen steckt, trifft auf ein System das permanent Kosten reduziert.
Daher sind Personalschlüssel nicht ausreichend, die Jobs vergleichsweise schlecht bezahlt. 7/13
In den wenigsten Fällen führt das zu vierfach Mord. Daher ist die Tat im Oberlinhaus tatsächlich der traurige Gipfel der Gewalt. Immer aber führt das zu sichtbarer und unsichtbarer, psychischer oder physischer Gewalt. Berichte darüber gibt es unzählige. 8/13
In einem von Ressourcenknappheit bestimmten System, entscheiden Menschen in einer ungleichen, von Abhängigkeiten geprägten Beziehung, täglich über andere Menschen. Meist ohne tiefgehende Kontrolle von außen und ohne wirkliche Mitbestimmung. Das ist die Realität. Jeden Tag. 9/13
Dass diese totalen Systeme, die stationären Einrichtungen, keine Lösung sind, erklären wir seit Jahren. Kaum jemand hört zu. Denn diese Einrichtungen sind praktisch. Sie sind vergleichsweise preiswert und regeln lästige Aufgaben außerhalb des gesellschaftlichen Blickfeldes. 10/13
Deswegen melden wir uns, trotz unserer individuellen Erschütterung über diese Tat zu Wort. Deswegen Maßen wir uns an von außen die Situation zu beurteilen. Weil wir wissen, dass totale Systeme weder für die Mitarbeitenden, noch für die Bewohner*innen gut sind. 11/13
Weil wir hoffen, dass diese Tat zeigt, was in solchen Systemen möglich ist. Was fehlt und was es braucht: eine gesellschaftliche Diskussion über Alternativen zu stationären Einrichtungen. Darum wie wir gute Orte zum Leben und zum Arbeiten gestalten. 12/13
Wie wir Pflege- und Assistenzbeziehungen auf Augenhöhe gestalten, wie wir demokratische und partizipative Strukturen in der Behindertenhilfe schaffen und behinderten Menschen Wahlmöglichkeiten und individuelle Biografien. Es geht um Menschenleben. Jeden Tag. 13/13

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17 Jul
Frühjahr 2010: Ich bin mit meinem damaligen Freund in einem barrierfreien Zimmer einer Jugendherberge einer deutschen Millionenstadt. Mitten in der Nacht geht der Feueralarm los. Wir verfrachten mich in den Rollstuhl, auf dem Rettungsplan, keine Hinweise für Rollstuhlnutzende 1/8
Wir realisieren auf dem Flur, dass wir wohl im "Behindertenflur" gelandet sind. Um uns herum rennen aufgescheucht, lernbehinderte Teilnehmende einer Reisegruppe herum. Auch auf den Fluren keine Hinweise für mich. Wir versuchen die Rezeption zu erreichen. Vergeblich. 2/8
Wir lassen uns Richtung Treppenhaus mitreißen, stehen vor dem Lift. Es ist nur ein Stockwerk ins EG. Wir checken ob wir Rauch riechen, nein. Keiner kann uns helfen. Der Lift funktioniert noch. Eigentlich darf man Aufzüge im Brandfall nicht benutzen. Wir tun es trotzdem. 3/8
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17 Jul
Sommer 2016: Ich sitze in einer Verhandlung über Barrierefreiheit als plötzlich eine Sirene losgeht. Das Gebäude ist mir fremd. "Das ist bestimmt nur Probealarm, da müsste ich Sie eigentlich an den Sammelpunkt bringen, aber das geht mit Ihnen ja nicht.", sagt der Gastgeber, 1/4
"Die Aufzüge werden ja abgestellt, sobald der Alarm losgeht." Unsicher blicken mich alle an. Wir sind im 4. Stock eines öffentlichen Gebäudes. Der Gastgeber versucht die Hausmeister zu erreichen. Erfolglos. Alle einigen sich darauf, dass das nur ein Probealarm ist. 2/4
Ich frage, was wir denn mit mir im Rollstuhl gemacht hätten, wenn es ernst wäre. Es gibt sechs Aufzüge in Haus. Keiner entspricht den Brandschutzbestimmungen eines Rettungsaufzuges. Keiner weiß, wo ich am besten auf eine Rettung per Leiter warten soll. 3/4
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16 Jul
In #Sinzig sind 12 behinderte Menschen nachts zuhause ertrunken. In Gedanken bin ich heute viel bei den Opfern und ihren Familien, aber auch bei einem grundsätzlichen Problem: Rettungswege und Notfallkonzeote sind nicht barrierefrei o. für behinderte M. nicht realistisch. 1/8
Ich rinnere mich an den Brand in einer Behindertenwerkstatt in Neustadt im Jahr 2012. Was passiert ist, ist nicht nur ein Unglück in mitten einer menschengemachten Naturkatastrophe. Was passiert ist weißt uns auf eine Leerstelle hin und sollte uns nachdenklich machen. 2/8
Die Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen ist nicht auf Rettung im Katastrophenfall eingestellt. In Einrichtungen existieren oftmals keine Rettungskonzepte, die realistisch funktionieren können. Weder Hilfsmittel, noch Umfeld sind auf solche Ernstfälle eingestellt. 3/8
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29 May
Ich merke, wie ich innerlich oft abschalte, wenn die Kolleg*innen über Geburtstagsparty, Einladungen usw. sprechen. Denn natürlich sind ihre Wohnungen nicht barrierefrei. Mein schönster Kollegenmomentvwarcdaher, als ein Kollege mich zu seinem runden Geburtstag einlud und 1/4
mir gleich erklärt hat, wie er es schaffen will, dass ich die eine Stufe in sein Haus mit dem Rollstuhl hochkomme. Er fragte mich ob das eine gute Lösung wäre und vor Ort hat es dann wirklich geklappt. Eine Freundin hat jahrelang ihren Geburtstag bei mir gefeiert, damit ich 2/4
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