Genau um diese Zeit vor einem Jahr starrten mein Freund und ich ungläubig auf unsere Laptops. Schüsse in Wien. Tote. Unsere Handys vibrierten dauernd. Alle in Sicherheit. Fuck. Doch nicht. Meine beste Freundin hockte am Schwedenplatz im Keller einer Bar. oe1.orf.at/player/2021110…
Dutzende Menschen kauerten in diesem Altbaukeller am Boden. Weinten leise, riefen ihre Liebsten an; manche verabschiedeten sich. Meine Freundin schickte in unsere Freundesgruppe eine Sprachnachricht. Es gehe ihr gut. Sie war mit Kolleg:innen unterwegs. Alle stünden unter Schock.
Aber sie war unverletzt. Der Kellner hatte schnell reagiert und die Gäste in den Keller gescheucht. Dort ging er nun umher und verteilte Wasser. Stundenlang harrten sie eingepfercht mit Fremden aus. Niemand wusste, was passierte.
Manche Medien verbreiteten zusätzlich Panik. Bilder von Menschen, die erschossen werden, tauchten in meiner Timeline auf. Ich legte das Handy weg und drehte die ZiB lauter. Mein Freund nahm mich in den Arm. Ich hatte noch nie so große Angst.
Irgendwann schrieb mir meine Freundin, ob es in Ordnung sei, wenn ein paar Terroropfer mit in unsere Wohnung kommen und bei uns übernachten. Ich war bei meinem Freund. Mein Bett war leer. Natürlich sagte ich ja.
Es vergingen weitere Stunden, bis die Polizei sie aus dem ersten Bezirk raus ließ und sie nach Hause gingen. Die Stadt war in dieser Nacht so still. Auch am Tag danach waren die Straßen unangenehm leer. Ich blieb zu Hause und begann zu schreiben.
Wien,
du bist mein Zuhaus.
Du bist der Ort, an dem ich mich angekommen fühle.

Wien,
ich gehe jeden Tag durch deine breiten Alleen und schmalen Gassen, bin entzückt von deiner Schönheit.
Ich gehe jeden Tag durch meine Stadt.
Nur heute, heute bleibe ich Zuhaus.
Wien,
ich kann nicht fassen, dass deine Straßen im Blaulicht blinken,
dass die Schreie und das Weinen von so vielen Menschen in der Stille verhallen.
Ich kann nicht fassen, dass Blut auf deinem Beton klebt und Angst in der Luft schwebt.
Mit jedem Atemzug atme ich deine Angst, deine Trauer. Höre Sirenen in der Ferne, wo die Stille dröhnt.
Wien,
aber du gibst mir auch Hoffnung.
Du bist der Typ, der den Attentäter als Oaschloch beschimpft.
Du bist die Polizist*innen, die für uns alle ihr Leben riskieren.
Du bist jeder und jede einzelne, die heute Kerzen anzünden.

Wien,
Du bist mein Zuhaus.
Thread Ende.
Abschließende Anmerkung: Dieses Foto ist am 4.11.2020 gegen 9 Uhr Früh entstanden. Zwei Tage nach dem Anschlag. Es ist Teil einer Serie, die ich für @amrand_at in den Wochen nach dem Anschlag fotografiert habe. amrand.at/post/wien-nach…

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