Alle Debatten unserer Zeit – ob es um Corona und Impfen geht, um die Klimakrise und die Biodiversitätskrise, um Einwanderung, um politische Korrektheit, um Trans und Terfs – sind davon geprägt (ja kommen erst dadurch zustande), dass wir das für uns schwierige Wissen ignorieren.
Für jeden Menschen gibt es Wissen, das man “das schwierige Wissen” nennen kann. Es ist Wissen, das man nicht zur Kenntnis nehmen will, das nicht anziehend, sondern abstoßend ist, nicht bestätigend, sondern verunsichernd. Es bedroht meine Integration in bestehende Gemeinschaften.
Für jedes Individuum, jede Gruppe und jedes Milieu, für jede Bewegung, jede Organisation und jede Partei, für jede Institution, jedes Unternehmen, jede Branche und jede Nation gibt es das schwierige Wissen. Ein Wissen, das Angst auslöst, das existenzbedrohend zu sein scheint.
In seinem Essay "Stufen der praktikablen Unwissenheit” unterscheidet Manès Sperber zwei Arten, Wissen aus dem Weg zu gehen. Wir mögen uns für etwas einfach nicht “interessieren” (denn Wissen setzt Interesse voraus). Oder wir halten uns mittels einer Ideologie das Wissen vom Leib.
Sperber: “Es genügt, dass wir kein ausdrückliches Interesse haben, etwas zur Kenntnis zu nehmen, zum Beispiel (…) weil solches Wissen Verpflichtungen mit sich bringen könnte, denen wir uns dank der mühelos aufrechterhaltenen Ignoranz mit gutem Gewissen entziehen können.”
Sperber erinnert daran, dass “das deutsche Volk in seiner Mehrheit zu behaupten wagte, von den wohlorganisierten Verbrechen der Nazis schlechthin nichts gewusst zu haben … Man nahm nicht zur Kenntnis, man lebte im Schatten – und nicht im Lichte – des unwillkommenen Wissens.”
Die Kommunisten, so Sperber, weigerten sich, den Horror des Stalinismus zur Kenntnis zu nehmen, “die Vernichtung von Unschuldigen und die Massendeportationen nicht mehr als sozialistische Grosstaten zu rühmen ... sie wussten ganz genau, was zu wissen sie entschieden ablehnten”.
Er stellt fest, “dass kaum zwei Jahrzehnte nach der Niederlage des Faschismus und nur ein Jahrzehnt nach der Destalinisierung die verwöhnteste Jugend der hochindustriellen Länder ihre Neigung entdeckte, das Wissen zugunsten des Meinens, einer sogenannten Ideologie, radikal ...
abzuwerten und in Universitäten jenen Meinungsterror einzuführen, den vorher nur totalitäre Regime an ihren Lehranstalten praktiziert hatten.” – Studenten neigten zunehmend dazu, “alles Wissen zu entwerten und nur jene Wahrheiten gelten zu lassen, die der eigenen Meinung dienen”.
Das war im Jahr 1980. Es klingt aber heute wieder aktuell. Das gilt überhaupt für Sperbers Diagnose einer neuen Welle “tendenziöser Unwissenheit”, wenn er schreibt, die “intendierte Ignoranz” werde mehr und mehr durch eine “extremistisch parteiische Stellungnahme” herbeigeführt.
Jetzt machten, so Sperber, die “Reichweite und Dichte des Nachrichtennetzes und die kaum abweisbare Aufdringlichkeit der Informationsmedien” es jedem “äußerst schwer, sich im Stande der zu nichts verpflichtenden Unwissenheit zu erhalten”. Darum der “frenetische Meindungssuff”.
Beispiele? Für einen Menschen, der sich vom Staat verraten und verlassen fühlt (und vielleicht in einer Bewegung Gleichgesinnter ein neues Zuhause gefunden hat, neue Gemeinschaft, neue Sicherheit), ist alles Wissen zur Pandemie, zur Mortalität, zur Impfung das schwierige Wissen.
Für Befürworter der Corona-Maßnahmen sind die gravierenden Nachteile, vor allem die von Lockdowns, das schwierige Wissen: Massenpleiten, Armut, erhöhte Armut und Kindersterblichkeit in Entwicklungsländern, psychische Leiden von isolierten Kindern, Lernrückstände von Kindern usw.
Für Konservative und Wirtschaftsliberale ist alles Wissen zur Klimakrise und zur Zerstörung von Ökosystemen durch Lebensraumvernichtung, Überausbeutung, Verschmutzung und invasive Arten das schwierige Wissen, weil es sie in Konflikt bringt mit Unternehmen und dem “freien Markt”.
Für Linke sind alle Probleme, die mit der Einwanderung und dem Wokismus verbunden sind, das schwierige Wissen. Jede Zurkenntnisnahme kann die eigene soziale Existenz gefährden. So ziehen viele die “praktikable Unwissenheit” vor, teils mittels Desinteresse, teils durch Ideologie.
Sperbers Essay "Stufen der praktikablen Unwissenheit” ist in dem schmalen Band “Der freie Mensch” erschienen. Im gleichnamigen Text schreibt Sperber: “Frei ist nur, wer psychisch fähig ist, die Verantwortung zu tragen, die er mit seinen Entschlüssen und Taten auf sich nimmt”.
Ich möchte ergänzen: “Frei ist nur, wer es schafft, das Wissen, das für ihn das schwierige Wissen ist, zur Kenntnis zu nehmen und danach zu handeln.” Jeder möge sich selbst fragen, was für ihn das schwierige Wissen ist. Jede Bewegung und Partei sollte das tun. Jede Gesellschaft.
Welches Wissen bringt mich in Konflikt mit meinen Freunden, meinen Followern, meinen Mitstreitern? Welches Wissen läuft meinen Interessen zuwider? Welches Wissen ist für mich das schwierige Wissen? Wem dazu nichts einfällt, bleibt, im Sinne Kants, “selbstverschuldet unmündig”.

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