Ich weiß nun nicht, ob dieser kleine Thread nun gerade ein Beitrag zu #IchbinHanna ist, aber vielleicht hilft er dazu, ein anekdotisches Schlaglicht auf die Universitätsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland zu werfen – mit speziellem Blick auf Arbeitsbedingungen. (1/13)
Ich bin beim Lesen alter Universitätsakten auf die Geschichte eines in seinem Fach sehr berühmten Professors gestoßen, dessen Name ich hier aus Datenschutzgründen nicht nennen will, der aber im betreffenden Fach noch immer einen großen Klang hat. (2/13)
In den 1950er Jahren wurde er von seiner ursprünglichen Hochschule abgeworben, um an der neuen das aufzubauen, was wir heute ein Exzellenzcluster nennen würden. Nicht weniger als europäische Ausstrahlung versprach man sich von ihm. (3/13)
Die haben sie auch bekommen – in den fast zwanzig Jahren seiner Tätigkeit hat er gewaltige und noch heute eindrucksvolle Aufbauarbeit geleistet. Sie wirkt weiterhin nach, natürlich auch, weil andere aktiv daran angeknüpft haben. Aber auf den Anfang kommt es eben auch an. (4/13)
Umso überraschter war ich, dass die Professur zunächst auf fünf Jahre befristet war. Aber auch diese Befristung erwies sich schon nach zwei Jahren als wacklig, denn man stellte fest, dass der geschlossene Vertrag vermutlich gar nicht rechtsgültig war. Tja. (5/13)
Also schaute man, dass man es irgendwie durch einen neuen Vertrag ausbügelte. Für eine Verbeamtung war es eigentlich schon zu spät (der Professor mit Mitte vierzig zu alt), aber da war man großzügig und arrangierte eine Ausnahmeregelung, also doch noch Verbeamtung. (6/13)
Der Pferdefuß nur: Das Gehalt wäre dann leider, leider um ein Viertel geringer. Unser Professor war nicht so richtig begeistert, man verhandelte also weiter. Heraus kam ein kurioser Kompromiss: Es blieb beim alten Gehalt, aber dafür gab es Extraaufgaben zu erledigen. (7/13)
Diese bestanden darin, dass der Professor seine bemerkenswert intensiven Tätigkeit jenseits von Lehre, Forschung und Selbstverwaltung, die eine große Öffentlichkeit erreichten, nun also zum Teil seiner dienstlichen machen sollte. Damit konnte es beim alten Gehalt bleiben. (8/13)
Auch damals schon gab es Berufungsverhandlungen, die nicht die eigene Person betrafen, sondern die institutionellen Arbeitsbedingungen; im konkreten Fall den Ausbau der Hochschulgebäude für die spezifischen Bedürfnisse des Professors und seines Teams. (9/13)
Zwanzig Jahre lang erinnerte er immer wieder daran, zwanzig Jahre passierte exakt: nichts. Das änderte sich erst, als unser Professor schon fünf Jahre nicht mehr am Leben war. Die Lebensleistung war auch so groß genug, aber wer weiß, was noch alles möglich gewesen wäre… (10/13)
Ein Moment hat mich in den Akten wirklich berührt: In den frühen 1970er bekam er einen Forschungs- und Entwicklungsplan vorgelegt, ein etwa zehnseitiges Formular. Strategie, Big Picture, Tamtam – alles in endlosen Spalten zu benennen und auszufüllen. (11/13)
Der offenkundig ratlos in diesem Formular herumirrende Stift hat mich ergriffen: Da spielst du ein Jahrzehnt und länger hart am Ball, bekommst Resonanz, die bis nach New York und Tokyo hallt, und dann muss das irgendwie im Formular untergebracht werden. (12/13)
Unser Professor war eben nicht wie Niklas Luhmann ein Verwaltungsexperte, sonst hätte er doch wohl kopiert, was der Bielefelder ebenso frech wie legendär ins Formular schrieb: „Forschungsprojekt: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine“. (13/13)

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