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Feb 17 • 25 tweets • 6 min read
🧵 zur Geschichte der Debatte um die Gain-of-Function-Forschung mit Pandemiepotenzial (GOFP):

Die Virolog:innen sind tief gespalten. Eine Gruppe spricht sich seit Jahren dafĂĽr & gegen Moratorien aus, eine andere Gruppe engagiert sich gegen GOFP. 1/
"GOF" steht für Experimente, in denen Erreger so verändert werden, dass sie "Funktionen" hinzugewinnen, bspw. ansteckender werden. GOF ist oft ungefährlich, erzeugt in manchen Fällen aber neue Erreger, die eine Pandemie auslösen könnten. Man spricht dann von GOF/PPP: 2/
Potential Pandemic Pathogens. In diesem 🧵: GOFP.

Die Gruppe von Virolog:innen, die GOFP durchführen will, vertritt die These, GOFP sei zur Prävention künftiger Pandemien wichtig. Eine andere Gruppe widerspricht ihr stark. 3/
2014 traten die Gruppen öffentlich in Erscheinung und publizierten Stellungnahmen. Davor hatten sich besorgniserregende Lab Leaks ereignet (Milzbrand, H5N1-Vogelgrippe, Pocken). @NIH verfügte (unter Obama) ein Funding-Moratorium, das 2017 (unter Trump) wieder aufgehoben wurde. 4/
Eine Gruppe um @mlipsitch & David Relman trat als Cambridge Working Group an die Öffentlichkeit: cambridgeworkinggroup.org. Sie will GOFP eindämmen, bis im Rahmen quantitativer Risikoabschätzungen belegt werden kann, dass die Benefits die Costs netto klar überwiegen. 5/
@mlipsitch & Co. haben in verschiedenen Papers argumentiert, dass ein solcher Beleg kaum zu erbringen sei: Man müsste zeigen, dass die GOFP-Forschungsgelder in *keiner einzigen* (!) anderen pandemiepräventiven Maßnahme besser angelegt wären. Doch es gibt diverse wichtige 6/
pandemiepräventive (Forschungs-)Maßnahmen, die dem Planeten – im Gegensatz zur GOFP – *kein* Katastrophenrisiko auferlegen. In diesem Paper nature.com/articles/nrmic… (2015) lässt sich die Debatte zwischen Lipsitch/Relman und den Opponenten Duprex/Fouchier gut nachvollziehen. 7/
Wenn man als Risikoethiker (oder als BĂĽrger mit Common Sense) von auĂźen auf diese Debatte schaut, dann scheint klar, wer Recht hat: Lipsitch/Relman.

Duprex/Fouchier wollen GOFP-Experimente durchfĂĽhren, die jedem Menschen unseres Planeten ein Katastrophenrisiko auferlegen: 8/
Man würde erwarten, dass sie dazu – vor Beginn der Experimente – Cost-Benefit-Analysen vorlegen konnten. Wie Lipsitch festhält, ist das "amazingly" aber nicht der Fall. Stattdessen erhielt man von Duprex/Fouchier Hinweise darauf, dass die Folgen der Forschung 9/
allgemein halt schwer abschätzbar seien.

Nun, das lieferte höchstens ein Argument dafür, Risikoaversion walten zu lassen & auf GOFP zu verzichten – und das Forschungsgeld stattdessen in sichere Formen der Pandemieprävention zu stecken, wo es auch dringend benötigt wurde. 10/
Duprex/Fouchier & Co. traten 2014 mit der Gruppe Scientists for Science an die Öffentlichkeit: scientistsforscience.org, cidrap.umn.edu/news-perspecti…. Unter den Founders der Gruppe findet sich auch @c_drosten, der damals noch an der Uni Bonn tätig war. 11/
Mit Covid-19/SARS-CoV-2 hat sich nun eine globale Katastrophe ereignet, deren Ursprung nach wie vor unklar ist. Im Lichte der aktuellen Evidenz lässt sich jedoch festhalten, dass die Cambridge Working Group um Lipsitch/Relman in einer ganz wesentlichen Hinsicht richtig lag: 12/
Die GOFP hat uns – entgegen den Erwartungen der Scientists for Science – bei der Prävention von Covid-19 nichts gebracht. Und es ist nicht auszuschließen, dass die GOFP die Pandemie sogar verursacht hat. Dieses Szenario befürchtet die Cambridge Working Group seit Jahren. 13/
Angesichts der aktuell vorliegenden Evidenz scheint man allseits zuzugestehen, dass die Wahrscheinlichkeit wohl mindestens ~10% beträgt, dass Covid-19 auf einen Laborunfall in Wuhan zurückgeht. Daraus folgt risikoethisch & wahrscheinlichkeitstheoretisch einiges: 14/
Risikoethisch ist es gar nicht entscheidend, ob die Wahrscheinlichkeit 99%, 50% oder 10% beträgt. Eine gängige Richtgröße zur Risikobewertung ist das mathematische Produkt aus Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß, der sog. Erwartungswert: 15/
10% bzw. 0.1 multipliziert mit dem Gesamtschaden der aktuellen Pandemie ergibt einen gewaltigen Negativwert.

Wahrscheinlichkeitstheoretisch liegt ein neues, starkes Argument dafür vor, dass Lipsitch/Relman mit ihrer Einschätzung richtig lagen, Duprex/Fouchier falsch: 16/
In Papers wie ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/P… / ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/P… berechneten Lipsitch & Co. eine Wahrscheinlichkeit von ~1/1000 pro Hochsicherheitslabor und Jahr, dass sich ein pandemischer Unfall ereignet. Setzt man pro Pandemie 10 Millionen Todesopfer als Richtwert an, 17/
ergeben sich im Erwartungswert 1/1000 mal 10 Millionen = 10'000 Todesopfer pro Labor und Jahr. (Die Opferzahlen könnten allerdings auch in die Milliarden gehen: Es lassen sich Pathogene herstellen, die bei einer Todesrate von >50% so ansteckend sind wie Omikron.) 18/
Fouchier & Co. haben in Papers wie ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/P… / journals.asm.org/doi/10.1128/mB… geantwortet: Die Wahrscheinlichkeit von 1/1000 sei um viele Zehnerpotenzen zu hoch. Tatsächlich sei eine Pandemie aus dem Labor statistisch nur einmal pro Jahrmillion zu erwarten. 19/
Lipsitch & Inglesby haben darauf repliziert: ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/P…. Unabhängig von den technischen Details lässt sich wahrscheinlichkeitstheoretisch (bayesianisch) festhalten: Eine Evidenzlage, die uns ganze 10% (!) auf einen Laborunfall setzen lässt, wäre ein unglaubliches 20/
statistisches Wunder, wenn Fouchier & Co. Recht hätten, dass sich eine Pandemie aus dem Labor statistisch nur einmal pro Jahrmillion ereignet. Das kann nicht sein. Die vorliegende Evidenz zur Laborsituation in Wuhan zeigt, wie leicht sich ein Unfall ereignen könnte, besonders 21/
wenn ein Labor auf tieferen Sicherheitsstufen arbeitet, als dies geboten wäre.

Risikoethisch ist zweierlei zu ergänzen: Die oben skizzierten Kalkulationen beziehen weder Risikoaversion noch die Tun/Unterlassen-Unterscheidung mit ein. Pandemien aus dem Labor scheinen üblere 22/
Worst Cases zu haben als Pandemien aus der Natur. Lipsitch & Co. rechnen vor, dass Milliarden Menschen sterben könnten, wenn Pathogene freigesetzt werden, die via GOFP so "optimiert" wurden, dass sie die Schwächen des menschlichen Immunsystems gezielt ausnutzen. 23/
Die ethische Berücksichtigung von Risikoaversion liefert daher ein zusätzliches Argument gegen GOFP.

Dasselbe gilt fĂĽr die BerĂĽcksichtigung der Tun/Unterlassen-Unterscheidung: Die GOFP-Experimentator:innen erzeugen *aktiv* ein Katastrophenrisiko, um bestehende 24/
Risiken zu mindern. Das ist ethisch nicht ohne Weiteres zulässig – abgesehen vom empirischen Punkt, dass die GOFP-Benefits hochumstritten & bei Covid-19 ausgeblieben sind, und dass die GOFP-Forschungsgelder in unumstrittene pandemiepräventive Maßnahmen fließen könnten. 25/25

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