In meiner Familie gab es keine religiöse Praxis. Meine Mutter war auf dem Papier evangelisch, mein Vater war aus der Kirche ausgetreten.
In der #Waldorfschule wurde ich aber religiös beschallt. Das Morgengebet, die Heiligenlegenden, religiöse Texte im Lesebuch.
Ich war damit allein, ich habe mich nicht begleitet gefühlt. Ich hatte aber das Gefühl, dass es besser wäre, religiös zu sein. Es war das vage Gefühl, dass hier etwas von mir erwartet würde und dass dieser Gott, um den es da ging, vielleicht böse werden könnte, wenn
ich ihn ignorierte. Besonders freundlich wirkte er in den Geschichten ja nicht.
Unsere Lehrerin erzählte uns von der adeligen heiligen Elisabeth, die die Kissen von der Kirchenbank nahm und auf dem harten Holz kniete. Ich verstand das als Vorbild für uns, also begann
ich zu beten. Ich überlegte, wie ich dieses "tugendhafte Verhalten" auf mein Leben übertragen konnte, denn wir gingen ja nicht in die Kirche. Samstags gab es in der Schule die Handlung, wo wir in einem abgedunkelten Raum einen Gottesdienst abhielten, aber dort
wurde nicht gekniet und es gab ohnehin keine Kissen.
Ich habe dann angefangen, Gott Sachen zu versprechen: Ich werde morgen beten, und ich werde es draußen auf dem Boden tun, damit es nicht zu bequem ist.
Gleichzeitig war mir das ein bisschen unangenehm, niemand
sonst ging in meiner Umgebung in die Kirche, an Gebeten kannte ich nur die aus der Schule oder ein paar Tischgebete.
Aus unserem Lesebuch habe ich mir das Abendgebet herausgesucht und angefangen, es abends im Bett zu beten.
Leise, damit es niemand mitbekam.
Religion war allgegenwärtig an der Waldorfschule: es gab anthroposophische Heiligenbilder, wir sangen Lieder über St. Martin und St. Michael: "Hilf uns hie kämpfen, die Feinde dämpfen, Sankt Michael!"
Thematisiert wurde das aber nicht, dass wir eine christliche Schule besuchten.
Meine Geschwister und ich begannen, das Tischgebet aus dem Kindergarten auch zuhause vor dem Essen zu sprechen.
Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, wurden plötzlich viele Kinder aus meiner Klasse getauft. Meine Geschwister und ich äußerten auch den Wunsch, und so wurden
wir getauft. Mein Vater trat wieder in die Kirche ein. Alles evangelisch-lutherisch, meine Eltern waren nicht anthroposophisch.
Später, als der Brief von der Gemeinde kam, ließ ich mich konfirmieren.
Freund*innen von mir waren in der Christengemeinschaft, der
anthroposophischen Kirche. Ich ging zu ihrer Konfirmation, sie wurden im selben Gottesdienst getauft, mit Salz, Asche und Wasser.
Wir kamen aus agnostischen bis atheistischen Elternhäusern, Religion spielte in Norddeutschland eigentlich keine Rolle - außer in unserer Schule.
Heute sehe ich das sehr kritisch.
Vielen Eltern ist nicht klar, dass die Waldorfschule christlich-esoterisch ist und sich das im täglichen Unterricht niederschlägt. Meine Eltern bekamen nicht mit, was in mir vorging, dass ich mir Sorgen um mein "Seelenheil" machte.
In der Schule wurde im wahrsten Sinne etwas anderes gepredigt, als ich von zuhause kannte. Bei mir hat das zu inneren Konflikten geführt, ich machte mir Sorgen über die Lebensführung meiner Familie.
Gleichzeitig sehe ich Waldorfschüler*innen oder deren Eltern,
die mir im Brustton der Überzeugung versichern, der Unterricht an ihrer Schule sei "ganz normal", religiöse bzw. anthroposophische Inhalte gebe es nicht.
Kein Wunder: Waldorfschulen umschiffen dieses Thema gern, wie der Bund der Freien Waldorfschulen in seinen "21 Fragen" zeigt
Es ist diese mangelnde Transparenz, die mich an Waldorfschulen stört. Weltanschauliche Schulen: Gern, aber dann sollte auch mit offenen Karten gespielt werden.
Eltern sollten darauf vorbereitet sein, dass ihr Kind irgendwann religiöse Vorstellungen aus der Schule mitbringt.
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Als ich diesen Account vor drei Monaten startete und anfing, meine Gedanken zu #Waldorfschule und #Anthroposophie aufzuschreiben, kannte ich keine anderen waldorfkritischen Social-Media-Accounts aus Schüler*innenperspektive, mittlerweile habe ich einige kennengelernt.
1/10
Und ich bin immer wieder beeindruckt, wie sehr sich unsere Erfahrungen und die Kritik ähneln.
Dabei hatte ich bisher von Waldorf-Seite vermittelt bekommen, meine Erfahrungen seien ungewöhnlich oder zu lange her. Die beiden Schulen, die ich besuchte,
2/10
seien wohl Ausnahmefälle, da hätte ich Pech gehabt. Und überhaupt habe sich seit meiner Schulzeit sehr viel geändert, die Waldorfschulen seien jetzt sehr modern und nicht mit den Schulen von vor 20-30 Jahren zu vergleichen.
3/10
Wenn ihr darüber nachdenkt, eure Kinder in eine #Waldorfschule einzuschulen, solltet ihr bedenken,dass der Wechsel auf eine andere Schulform danach nicht ohne Weiteres möglich ist. Da ist einerseits das negative Bild, das Waldorf-Kindern von der "Staatsschule" vermittelt wird.1/5
Ich hatte vor meinem Wechsel ein diffuses Bild von einer bösen Außenwelt und assoziierte mit der "Staatsschule" viel negatives (Kälte, Leistungsdruck usw.), da hatte dieser Waldorf-Kampfbegriff ganze Arbeit geleistet.
Vor allem aber: Waldorfschulen unterrichten nicht auf 2/5
dem Niveau von Realschulen oder Gymnasien. Sie hängen z. T. mehrere Jahre hinterher. Es ist darum üblich, dass #Waldorfschüler*innen bei einem Schulwechsel mindestens eine Klasse wiederholen.
Der Rückstand betrifft dabei nicht nur die MINT-Fächer. 3/5