Aufklärung über mentale Gesundheit beinhaltet oft diese Botschaft: "Psychische Störungen denken sich Menschen nicht aus. Sie sind echte Erkrankungen". Ich verstehe diese Idee und ich teile das Anliegen. Aber manche Verkürzungen zu diesem Thema können zu Problemen führen. 1/
Es ist kein Zufall, dass #Psychotherapeut*innen Störungen (engl. disorders) diagnostizieren, Ärzt*innen aber Erkrankungen (engl. diseases). 2/
Es fehlen im deutschen differenzierte Begriffe wie im Englischen: Begriffe wie #condition und #disorder haben eine andere Bedeutung als #disease, #sickness und #illness. Die ICD erscheint (genauso wie das DSM) auf Englisch und wird dann übersetzt ins Deutsche. 3/
Das begriffliche Durcheinander im Deutschen zeigen sich bei der "Psychischen Störung mit Krankheitswert". Wie gesagt: Es ist kein Versehen der @WHO, eben nicht von psychischer "Krankheit" zu sprechen, sondern Absicht. 4/
Der @WHO-Begriff harmoniert aber nicht mit dem deutschen Sozialverwaltungsrecht. Dieses verlangt, dass Menschen in Deutschland nicht nur eine psychische Störung haben, sondern eine "mit Krankheitswert". Sonst interessiert dieser Zustand die Krankenkassen (@GKV_SV) nicht. 5/
Wer meint, dass psychische Störungen unstrittig - aus sich selbst heraus evident - existieren, verkennt, dass sie in den Revisionen der Klassifikationssysteme (z.B. ICD-11) teils abgeschafft, teils neu erschafft, teils überarbeitet werden. 7/
Selbst wenn man den Krankheitsbegriff ignoriert, muss man beachten: Störungen "gibt" es nicht alle gleich "wirklich" - z.B. gibt es bei der Generalisierten Angststörung eine eher niedrige Interrater-#Reliabilität und diskriminante #Validität (vgl. Untersuchungen zum DIPS). 8/
Die Debatte darüber, was eine "wirkliche" oder "anerkannte" psychische Störung ist (und was nicht), kreiste in Deutschland traditionell um das Thema #Burnout. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es kein Burnout als psychische Störung, in der Lebenswelt von Menschen aber schon. 9/
Im Gesundheitssystem hat man sich auf einen "Kompromiss" geeinigt: Burnout ist ein anerkanntes Problem (Z73 ICD-10), aber keine psychische Störung / Erkrankung (Kapitel F ICD-10). 10/
In keinem anderen Land der Welt gibt es Krankenkassen, die bei diesen "Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung" eine Digitale Gesundheitsanwendung (#DiGA) bezahlen. 11/ diga.bfarm.de/de/verzeichnis…
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Gerade live: Ein sehr guter Vortrag von meinem Institutsprof Michael Linden @BerlinPtk über eine Studie über die Versorgung mit #Psychotherapie: 1) Zwei Drittel aller Patient*innen haben Abitur. 2) Nirgendwo auf der Welt gibt es eine so lange Psychotherapiedauer wie in D. 1/2
3) Psychische Störungen / Erkrankungen sind in der Regel chronisch, meistens dauern sie über mehrere Jahrzehnte an. 4) "Heilung" ist in der Regel nicht möglich durch Psychotherapie, diese Erwartung führe nur zum Burnout von #Psychotherapeut*innen.
5) Es gebe Probleme bei der Ressourcen-Allocation von #Psychotherapie in Deutschland: Wir müssen uns fragen, wie wir die "pathways to care" verändern können.
Im neuen Newsletter der #Psychotherapeutenkammer (@BerlinPtk) wird eine Frage gestellt, die bisher vermieden wurde: "Warum unternehmen wir als Berufsstand keinerlei
Anstrengungen, eine Aufhebung der Zulassungsbeschränkungen anzustreben?". Erwähnt wird auch @zdfmagazin: 1/
Scheinheilig seien #Psychotherapeut*innen, die einen Mangel an #Therapieplätzen beklagen und sich über die #Bedarfsplanung / den G-BA empören. Dieselben kassenzugelassenen Therapeut*innen hätten kein uneingeschränktes Interesse an mehr Therapieplätzen. 2/
1) Ihre Befürchtungen: Mehr #Therapieplätze auf dem Markt könnten zu einem "Preisverfall der psychotherapeutischen Leistungen" führen. 3/
Manche Politiker*innen befürworten offen pseudowissenschaftliche Therapien. Nicht nur Manfred Lucha, auch @Die_Gruenen-Landesvorsitzende Lena Schwelling setzt sich aktiv für die Homöopathie ein. Ihre Argumentation: 1/4
Die #Therapiefreiheit: Behandler*innen und Patient*innen müssen die Freiheit haben, auch unwirksame Therapien zu wählen. Die Krankenkassen sollen auch diese Therapien bezahlen (@GKV_SV). 2/4
@spiegelonline berichtet, dass Robert Habeck eine parteiinterne Kommission über die Anerkennung der #Homöopathie verhindert habe. Sein Argument: Die Debatte würde nicht sachlich geführt. 3/4 spiegel.de/politik/deutsc…