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Nov 7 17 tweets 4 min read
Was verändern #Medizin #Gesundheitswesen 🧵

Ich bin jetzt alt und weiß alles besser und habe auch gar keine Ahnung. Ich schreibe trotzdem, weil ich jetzt irgendwelche Gaslighting-Vorwürfe bekomme, weil ich was zum PJ, aber auch zum Gesundheitssystem an sich geschrieben habe.
Ich mache seit fast 20 Jahren Medizin und arbeite in unserem Gesundheitswesen. Ich habe immer in freundlichen Abteilungen gearbeitet, habe aber selbstverständlich die Auswirkungen unserer Gesundheitspolitik zu spüren bekommen. Ich war wütend, überfordert und kaputt. Ich war
auch wütend auf die KollegInnen, die immer in der Ambulanzküche rumgeheult haben, weil alles so schlimm sei, die man aber nicht dazu bewegen konnte, etwas Sinnvolles dagegen zu tun. Konzepte zu entwickeln, Ideen zu haben, gegenüber dem Chef oder der Verwaltung geschlossen
aufzutreten. Lieber nichts machen, nur den ganzen Tag beschweren. Ich habe das gehasst. Ich bin zuerst in die Delegiertenversammlung der Ärztekammer gegangen, wo man auch sehr gut lernt, dass Berufspolitik auch Politik ist und dass man weniger emotional, sondern strategisch
denken muss. Dass Veränderungen langsam gehen. Das ist blöd, aber das ist so, und damit muss man umgehen. Oder versuchen, es zu verändern. Ich bin dann später in den Betriebsrat gegangen, wo man sehr viel schneller Dinge umsetzen kann. Wo man versteht, was Arbeitsgerichte
sind, wie ein Konzern arbeitet. Wir haben in recht kurzer Zeit Projekte für das Haus verwirklichen können. Manches geht gegen Widerstände, anderes geht so durch. Die Themen gingen von Arbeitszeitmodellen zu besseren Arbeitsbedingungen für Teilzeitkräfte. Es ist Arbeit, wenn man
sich da engagiert. Es ist nicht morgen alles geändert und das große emotional geprägte Ziel „Alles muss anders sein“ ist nicht zu verwirklichen. Nie. Man muss sich klar sein, an welchem Punkt man anfangen will und wieviel man da investieren möchte und was die Lösung sein soll.
Die Wege dahin sind unterschiedlich, die sagt einem auch niemand. MedizinerInnen sind träge, weil die das kennen, dass man alles ertragen muss, und weil die in der Regel so am Limit sind,dass keiner mehr Lust hat, parallel noch (oft auch langweilige) Berufspolitik zu machen
oder in anderes berufsständisches Engagement einzusteigen. Veränderung ja bitte, aber ich kann leider nichts machen. Das ist schwierig. Ich habe mir später gedacht, dass ich inoffizielle Wege nehme, um Dinge zu bearbeiten, die ich als extrem großen Missstand empfunden habe.
Ich sage dazu nicht viel, aber ich wusste, dass ich dafür meinen Job verlieren könnte und dass es auch rechtliche Konsequenzen für mich haben könnte. Der @marburger_bund hat mich in dieser Zeit unheimlich gut beraten und begleitet. Ich habe das vorher kalkuliert und wusste,
dass ich die Klinik verlassen würde, deswegen war es eigentlich nur ein bisschen mutig. Aber das Thema war mir so wichtig, dass ich das riskiert habe. Ich rate niemandem zu sowas, aber das war eben nochmal ein komplett anderer Weg, vielleicht etwas zu verändern. Noch später
hat sich hier das @twankenhaus formiert, ein Think Tank, dem es natürlich auch um das Benennen von Missständen geht, wo aber auch konkret Lösungen für das jeweilige Problem entwickelt werden, nicht nur von ärztlichen KollegInnen, sondern Mitgliedern aus allen Berufsgruppen im
Gesundheitswesen.
Es ist durchaus möglich, Dinge zu verändern. Das dauert. Es ist nervig. Aber es braucht kreativen, im Kopf flexiblen Input. Es gibt viele Stellen, an denen man sich engagieren kann, aber es ist auch vollkommen in Ordnung, sich selbst Gedanken zu machen und
was völlig anderes zu gestalten. Niemand wird einem sagen, wie das geht. Das ist wie bei der Behandlung von PatientInnen, ich kenne erstmal nur das Problem, die Lösung muss ich mir überlegen. Das Problem kann sich auch nochmal ändern und plötzlich ganz anders aussehen.
Da darf man nicht erschrecken, sondern muss eventuell nochmal neu überlegen. Wir brauchen in Medizin die Um-die-Ecke-Denker, die mit den erstmal absurd wirkenden Ideen, die mit den Visionen und die, die nicht nur in der Ambulanzküche schimpfen, von denen haben wir genug.
So, das wird sonst zu lang. Ich muss soviel machen, deswegen schränke ich die Kommentare ein, und ich habe auch ehrlich keine Lust, mir das Gemeckere anzuhören oder irgendwelche komischen Angriffe. Ich ermutige aber jeden, egal in welchem Abschnitt der Ausbildung, sich dafür
einzusetzen, dass wir Veränderungen durchsetzen können. Wir sind eine große Masse an Menschen und zu klug, uns immer nur zu beschweren und uns einzureden, wir könnten leider nichts tun.
You rock.

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Nov 6
#HakenHalten #PJ #Ausbildung Thread

Ich habe vorhin gelesen, dass sich jemand beschwert hat, dass man im Chirurgie-PJ immer Haken halten muss und es keinen Unterricht gibt.
Dazu möchte ich was sagen.
Wenn man aus dem Studium kommt und ins PJ geht, hat man mal Anatomie gehabt und auch mal Chirurgie theoretisch. Mir ist der Chirurgiekurs an der Uni nicht im Kopf geblieben, kann den Grund haben, dass Chirurgie, wie Stricken oder Basteln, im Kopf vielleicht interessant, aber
recht sinnlos ist. Ich bin Kopf-Hals-Chirurgen, das belächeln unsere „richtigen“ Chirurgen ja ein bisschen, ich habe aber auch mal Unfallchirurgie gemacht. Wenn man im PJ anfängt, weiß man übers Operieren so gut wie nichts. Man hat noch nie in einem Menschen rumgeschnitten,
Read 16 tweets
Nov 4
Wow, jetzt sind hier so viele Fragen aufgetaucht, dass ich mit der Beantwortung im Moment nicht mehr hinterherkomme. Vieles davon habe ich aber schon mal aufgeschrieben:
Ich kann nicht das Buch ins Netz stellen, aber ich zeige Euch einfach das Inhaltsverzeichnis. Einige Sachen, die hier gefragt wurden, sind da genauso abgehandelt, wie ich hier auch rede. Und es gibt immer ein paar fun facts. Image
Image
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Nov 4
Nasenbluten! (Erklärbär-Thread)

Nachdem hier sehr bizarre Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Nasenbluten aufgetaucht sind, will ich einmal bisschen was zur Entstehung und Therapie des Nasenblutens erklären.
Mit Tipps für zuhause!
Nasenbluten kennt fast jeder in irgendeiner Form. Wie bei allen anderen Blutungen ist auch beim Nasenbluten (lat. Epistaxis) irgendwo ein Blutgefäß offen. Nasenbluten wirkt oft sehr bedrohlich, weil gefühlt 5 Liter Blut aus der Nase kommen (es ist gar nicht so viel).
Damit man überhaupt verstehen kann, warum man welche Maßnahmen ergreifen soll, eine grobe Anatomie-Erklärung. Die Nase ist wie ein Tunnel mit einer Wand in der Mitte. Diese Wand ist die Nasenscheidewand, und jeder kann sie fühlen, wenn man z.B. in der Nase bohrt.
Read 24 tweets
Aug 8
Auch HNO:

Vor 2 Jahren Erstvorstellung der Patientin mit Tinnitus. Weinend.

Thread.

#HNOPraxisLive
Die umfangreiche HNO-Diagnostik war bis auf einen isolierten Tinnitus unauffällig.
Ich fragte sie nach Begleitsymptomatik, sie sagte, es gäbe Probleme bei der Arbeit.
Ich screene jede/n Tinnitus-Pat. auf Depressionen. Ihr Score ergab hier deutliche Hinweise.
Ich besprach mit ihr in mehreren Terminen die therapeutischen Optionen und traf sie regelmäßig zur psychosomatischen Grundversorgung, wo sie auch ihre erhebliche Belastungssituation erzählen konnte. Wir hatten einen engmaschigen und guten, oft auch fröhlichen Kontakt.
Read 12 tweets
Aug 6
Ein ganz herzliches Willkommen an alle neuen Follies!

Zu diesem Account:
Hier postet eine Mutter/Ärztin/noch ein paar andere Sachen.

Ich freue mich über alle, die im Kopf flexibel und neugierig sind und Absurdes mögen.

Kurzer Thread.
Nicht zurecht komme ich mit Nazis, Tunnelblickmenschen, Querleugnern, Homo- und Transfeindlichen und anderen Kleingeistern. Instant block, diskutiere auch nicht mehr. Ich bin, wie viele andere, begeistert, selbstunsicher, mitunter erschöpft und mitunter ganz lustig.
Hier gibt es immer mal zum Teil unterhaltsame, zum Teil aber auch ein bisschen traurige Kunst. Ich kann unfassbar nervige GIF-Battles und sehr gruselige Gemälde.
Ich gebe Einblicke ins Gesundheitswesen, überlasse aber in allen Fragen, die meine Kompetenzen überschreiten, anderen
Read 4 tweets
Jun 21
Ich habe es so satt.
Rant 🧵
Wieder ungefähr 7 oder mehr Leute ohne Absage nicht erschienen. Das sind 14 Termine in den letzten 2 Tagen.
Einer hat sich gestern angemeldet, wurde am Ende des heutigen Programms noch eingeschoben- nicht erschienen.
In den letzten 2 Wochen hatten wir in der Praxisbelegschaft Todesfälle im Familienkreis und alle MFAs sind heftig erkrankt. Eine unserer MFAs ist (coronanegativ) in der ersten Woche noch krank zur Arbeit gekommen, damit die Termine stattfinden konnten.
Unser Azubi hat gestern
die Praxis allein geschmissen mit meinem Kollegen, der auch nicht fit ist.
Ich habe in der Praxis geheult nach dem Todesfall, aber ich habe gearbeitet. Einen Nachmittag war ich nicht da wegen der Trauerfeier.
Wir haben die Praxis einen einzigen Tag schließen müssen, weil
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