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Heut vor 20 Jahren hat das Stimmvolk die #Bilateralen I angenommen (67.2%).
Ohne #Corona hätten wir nur Tage vor dem Jubiläum über die #Kündigungsinitiative abgestimmt, die die Bilateralen I kündigen würde.
Aufgeschoben, ist nicht aufgehoben.
Zeit für einen Würdigungs-Thread 1/n
Als politisches Mehrheitsprojekt war der bilaterale Weg ein Erfolg. Er wurde wiederholt an der Urne bestätigt.
2005 wurde die Schengen-Assoziation angenommen (54.6%)
Auch 2005 wurde die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen Mitgliedstaaten angenommen (55.9%) 2/n
2009 wurde die Weiterführung der Personenfreizügigkeit und deren Ausdehnung auf Rumänien und Bulgarien angenommen (59.6%).
Das Referendum gegen die Ausdehnung der PFZ auf Kroatien und gegen die (bilateralen-freundliche) Umsetzung der #MEI blieb ungenutzt.

3/n
Indirekt waren auch die Ablehnung des #Selbstbestimmungsinitiative (2018; 66.2% Nein) und die Anpassung des Waffengesetzes ans Schengen-Recht (2019; 63.7 % Ja) Bestätigungen des bilateralen Weges. Beide hätten, wenn erfolgreich, diesen Weg gefährdet 4/n
Dem wird oft die #Masseneinwanderungsinitiative entgegengehalten, die 2014 angenommen wurde (50.3%). Es wird angenommen, diese habe einen Auftrag enthalten, die Personenfreizügigkeit zu kündigen.
Vor der Abstimmung haben das die Initianten selber aber entschieden bestritten: 5/n
U.a. wurde im Abstimmungsbüchlein (S. 35) die Idee verworfen, die #MEI wolle eine Kündigung der Bilateralen I. Es ist drum nicht nur aus Sicht des Werkplatzes, sondern auch aus Sicht der direkten Demokratie problematisch, die #MEI als Kündigungsauftrag zu interpretieren. 6/n
Die Bilateralen I ermöglichten der Schweiz, was durch das EWR-nein von 1992 zunächst gefährdet schien: Binnenmarktzugang.
Kein Mitgliedsstaat des Binnenmarktes profitiert von diesem pro Kopf so stark wie die Schweiz, sagt eine Bertelsmann-Studie 7/n
bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/file…
Dieser vordergründige Erfolg verschleiert, dass die Bilateralen stets nur als Provisorium konzipiert waren, bereits seit 15 Jahren an ihren institutionellen Grenzen stehen und dass es kein politisch realistisches Projekt gibt, sie auf eine zukunftsträchtigere Basis zu stellen.
Der Weg aus dieser Sackgasse, zu der ein eingebildeter Königsweg geworden ist, wird die grösste strukturelle Herausforderung für den Werkplatz Schweiz und für die kollektive Identität der Schweizerinnen und Schweizer in den kommenden Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. 8/n
Zurück zum status quo: Ein zentrales Charakteristikum der Bilateralen I ist die Guillotine-Klausel.👇
Sie führte dazu, dass die Freizügigkeit oft als notwendiges Übel verteidigt wurde; als eine Vorbedingung dafür, die andern Abkommen behalten zu können. 9/n
Das täuscht darüber hinweg, dass das #FZA nicht nur das politisch wichtigste unter den Bilateralen I ist, sondern auch dasjenige, von dem die Schweiz selber am stärksten profitiert (zu diesem Schluss kamen 2015 zwei Studien im Auftrag des SECO) 10/n seco.admin.ch/seco/de/home/A…
Im Folgenden soll sich die Würdigung der Bilateralen I daher zunächst auf das #Personenfreizügigkeitsabkommen konzentrieren; zunächst auf seine migrationspolitischen Auswirkungen, dann auf seine arbeitsmarktökonomischen Auswirkungen. 11/n
Zunächst, was sich durch die PFZ NICHT geändert hat: Wie schon zuvor, ist es im wesentlichen die Konjunktur, nicht die Politik, die Zuwanderung steuert.
Vgl. die Grafik im neuen Buch von #MarkusMugglin (S. 38) und diesen Text von @schmid_simon handelszeitung.ch/blogs/free-lun… 12/n
Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie fundamental der Paradigmenwechsel im Migrationsrecht war, den die PFZ bewirkte. Aus einem Gefahrenabwehr- und Wettbewerbsbeschränkungs-Recht wurde (für Menschen aus dem "1. Kreis") ein Nichtdiskriminierungsrecht.
Uebersax 2009: 13/n
War das Migrationsrecht zuvor noch in vielen Bereichen ein "Reservat staatlicher Willkür", in dem das freie Ermessen der Behörden herrschte, erwarb hier die zahlenmässig wichtigste Gruppe von Zuwanderer umfassende und robuste Rechtsansprüche.
Hierzu @EtiennePiguet 2013: 14/n
Oder noch viel genereller formuliert: Die Personenfreizügigkeit zwang (oder zwänge uns eigentlich) dazu, Migrationspolitik als die Gestaltung von etwas Werdendem zu betreiben, nicht als die Verteidigung von etwas bereits Gewordenen.
Hierzu Max Frisch schon 1965: 15/n
Nach dem Italienerabkommen von 1964 (und den Nachfolgeabkommen mit weiteren europ. Staaten) ist die PFZ der 2. grosse Liberalisierungsschub ihrer Migrationspolitik, den sie aus eigenem Antrieb nie wollte, aber auf Druck des Auslandes eingehen musste.
Botschaft des BR 1964👇 16/n
Ist die Gefahrenabwehr-Logik einmal in einem Sektor durch eine Nichtdiskriminierungs-Logik ersetzt, entfalet das eine emanzipatorische Dynamik, die kaum unterdrückt werden kann.
Das zeigt die dynamische Rechtsprechung des EuGH und deren häufige Übernahme durch das BGer. 17/n
Der permissivere Zugang zu Migration, den das FZA ermöglicht hat, trug gemäss einer Studie der @ekm_cfm von 2011 auch zu einem leichten Rückgang irregulärer Migration bei (S. 75). ekm.admin.ch/content/dam/da… 18/n
Faszinierend ist, wie wenig dieser enorme Liberalisierungsschub - von Manchen als Dammbruch dämonisiert - an den Migrationszahlen tatsächlich geändert hat. Zwar hat der Bundesrat im Vorfeld der Abstimmung untertrieben, aber die relevante Zahl ist das Migrationssaldo. 19/n
Die Nettozuwanderung nämlich, ist nach dem Inkrafttreten der PFZ (auch nach dem Wegfall der Übergangsregeln für die EU15 2007) sogar gesunken. Es ist das Migrationssaldo, das angestiegen ist, weil die Zuwanderer eher blieben. (der Slide ist von G. Sheldon). 20/n
Dies ein Hinweis darauf, wie beschränkt staatliche Steuerungsfähigkeit von Migration ist. Ein Problem in der Diskussion über die PFZ ist die Annahme, nach einem alternativen, fremdenpolizeilichen System könnte die Schweiz die Zahl der Zuwanderer tatsächlich selber festlegen. 21/n
Doch zu Problemen dieser Art später.
Zum Abschluss der Migrationspolitischen Diskussion (bevor wir uns dem Arbeitsmarkt zuwenden), ein Schmankerl, wie es früher war. Zur goldenen Zeit der Fremdenpolizei: Bürokratie unchained.VPB 59.17,13.April 1994: entscheidsuche.ch/entscheid.php?… 22/n
Eine aktuelle Studie von @AndiBeerli et. al. (schon als Working Paper in einer sehr rennomierten Serie publiziert: nber.org/papers/w25302) nimmt die Effekte der Liberalisierung von Grenzgängern unter die Lupe.
Sie belegt
1.) dass die Löhne von Einheimischen stiegen
...
23/n
2.) dass der Anstieg von Grenzgängern in den wissensintensiven Sektoren der Wirtschaft am höchsten war
3.) dass das Wachstum der entsprechenden Firmen durch die PFZ begünstigt wurde
4.) Dass die PFZ Forschung, Entwicklung und Patentanmeldungen begünstigte 24/n
Eine Zusammenfassung dieser Forschung von @AndiBeerli et.al in deutscher Sprache findet sich bei der @KOFETH:
kof.ethz.ch/news-und-veran…
25/n
Das aktuellste Arbeitsmartmonitoring des #SECO bestätigt den bisher konstanten Befund, dass die Erwerbsquote von Ausländern und Schweizern gleichermassen Anstieg und dass für Verdrängunseffekte, die gern behauptet werden, keine Anhaltspunkte bestehen. seco.admin.ch/seco/de/home/A… 26/n
Entgegen verbreiteter Annahme hat die #PFZ auch nicht den Effekt, dass die Schweiz sich nicht mehr auf hochqualifizierte Zuwanderer konzentrieren könne. Im Gegenteil. Das Qualifikationsniveau von Zuwanderern ist mit der PFZ gestiegen (@DieVowirtschaft 6/13, 8) 27/n.
2016 sorgte eine Studie des @AWAZurich für Furore, die belegen sollte, dass nur rund 20% der PFZ-Berechtigten in "Mangelberufen" arbeiteten. Das Konzept "Mangelberuf" ist nur vor dem Hintergrund der damaligen Diskussion um Inländervorrang verständlich.28/n nzz.ch/wirtschaft/wir…
Allerdings war nicht nur der Furor um die Studie eine Aufbauschung durch @NZZaS und @NZZ, sondern auch die Studie selber ein Denkmal für das problematische Konzept eines statischen Arbeitsmarktes (dazu später). Erhellend der Verriss von @schmid_simon 29/n handelszeitung.ch/blogs/free-lun…
Die grosse Frage, die durch dieses statische Verständnis von Arbeitsmarkt (indem die Nachfrage nach Arbeit sich kaum ausdehnen kann und der daher rasch "gesättigt" sein kann) in den Raum gestellt wird ist: Kommt es durch Freizügigkeit zu Verdrängung? Was wissen wir dazu? 30/n
Eine Studie von 2013 (seco.admin.ch/seco/de/home/A…) findet lediglich bezgl. Hochqualifizierten eine gewisse Verdrängung (ein Befund, der für die Verdrängung durch Grenzgänger durch die neuere oben erwähnte Studie von Beerli et. al. in Frage gestellt ist) 31/n
Diese Studie trifft allerdings diskutable Annahmen darüber, wie sich die Zuwanderung ohne PFZ entwickelt hätte. Darüber, wie sich die Konjunktur ohne PFZ (und damit auch ohne die anderen Verträge der Bilateralen I entwickelt hätte) trifft sie keine Annahmen. 32/n
Dass jene Studie annimmt, dass der Arbeitsmarkt die Zuwanderung gut "verkraften" konnte, während andere Studien zeigen, dass Zuwanderung grade eine Wachstumsbedingung für den Arbeitsmarkt ist, zeigt wie wichtig das Vorverständnis für den Ausgang der empirischen Analyse ist.33/n
Stellt sich noch die Frage, was ist mit älteren Arbeitslosen?

Das Projekt einer Übergangsrente, lanciert im Hinblick auf die #Kuendigungsinitiative, hat es im öffentlichen Diskurs zu einem Allgemeinplatz werden lassen, dass ältere Arbeitnehmer durch die PFZ verdrängt werden.34/n
Aber gibt es dafür robuste Hinweise?
Es ist schon fraglich, ob und inwiefern ältere Arbeitnehmer stärker von Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung betroffen seien als jüngere und ob dieses Problem zugenommen habe. 35/n seco.admin.ch/seco/de/home/A…
Eine Studie, die dieser Frage nachgeht und eine Methodik entwickelt, einen solchen Zusammenhang nachzuweisen, ist mir nicht bekannt. Es figuriert auch keine in der Literaturzusammenstellung des #SECO: file:///Users/stefanschlegel/Downloads/Literatur%20Observatoire%20d.pdf 36/n
Dass dies dennoch als Binsenwarheit für jede Diskussion um die Personenfreizügigkeit vorausgesetzt wird, zeigt, dass es Vorverständnisse und Frames gibt zur Personenfreizügigkeit, die für die Zukunft des bilateralen Weges wichtiger sind als gute Evidenz. Dazu morgen. 36/n
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