Thread by @rall0r

Warum Twitter mir nicht mehr gut tut, ein Thread:

Das Wichtigste zuerst: Meine TL sieht aus wie sie aussieht, weil sie für mich gemacht wird. Sie ist ein Spiegel dessen, was ich hier so lese, like, schreibe.
Ich bin also an meinem Problem selber schuld.

Früher war Twitter lustig.
Wir wollten uns mit Mett abreiben, hegten einen Fickwunschverdacht oder machten lustige Wortspiele, oder was mit Katzen, was auch immer.

Mittlerweile ist meine TL nur noch ernst, verbittert und vor allem anderen: ERBOST UND EMPÖRT!

Wir erzürnen uns über alles.
Über vieles zu recht - denke ich - über andere Dinge völlig übertrieben.

Beispiele:

Amthor. Ja, Amthor ist vermutlich korrupt. Ja, kein Lobbyregister ist ein Problem.
Aber meine TL hat sich nicht mehr einbekommen. Schnappatmung deluxe.
Es begann mal wieder der Wettbewerb darum, wer am härtesten austeilen kann, wer die meisten Likes mit dem Amthor sammeln kann.

#blacklifematters und #Polizeigewalt Ein geradezu absurder Wettbewerb begann, wer die grausamsten Geschichten über angebliche Polizeigewalt gegen Migranten und PoC zu erzählen hat.
Jeder war schon einmal Opfer von Polizeigewalt, jeder kannte einen...

#Coronakrise : Jeder kannte einen, der gestorben ist, jeder wusste zu berichten, dass man Corona bestenfalls schwerbehindert überlebt. Und zwar in 110% der Fälle.

Absurderweise haben die gleichen, welche die ganzen Corona-Toten zu beklagen hatten, wegen HomeSchooling und geschlossenen Kindergärten gejammert, als wäre das das Ende der Welt.
Dabei boten doch diese Maßnahmen gerade Schutz?

#Alman - des Twittermenschen liebstes Schimpfwort, zusammen mit #Almanlevel.

Das Verrückte daran: Würde man in diesen Tweets das Wort "Alman" gegen "Flüchtling" tauschen - es würde der fucking Baum brennen! NAZI! Geschrei würde sich erheben.

Apropos Nazi, oder Faschist.
FDP? Faschisten!
CDU? Faschisten!
Polizei? Faschisten!
Seehofer? Nazi!
Söder? NAZI... Ach nee. Dank Corona ist der ja jetzt gut.
Bundeswehr? Faschisten!
Christian Lindner? NAZI!

Gestern ein weiterer Knaller: Irgendein Mann hatte die Packungsbeilage der Pille gelesen und in einem Tweet seiner Fassungslosigkeit über die Nebenwirkungen kund getan.
Um es kurz zu machen: Laut meiner TL ist der ein mysogenes, mansplainendes, sexistisches Arschloch! Weil:

1. Er besaß die Frechheit, diesen Umstand erst jetzt zu bemerken!
2. Er besaß die Frechheit das ins Internet zu schreiben, OBWOHL JEDE FRAU DAS SEIT IMMER WEISS!
3. Er als Mann daran Schuld ist, dass mit der Pille jede Frau sich verstümmeln muss.
4. Er hat einen Penis!

#Spotify Wer ein Spotify Abo hat ist seit gestern ein Nazi. Weil da ein Nazi-Rapper sein Album vermarkten darf.

Es gibt Accounts, die haben ein sehr feines Gespür dafür, das Tagesgeschehen so kommentieren, dass sie mich jedes Mal anzünden.
Das ist wie ein Geschäftsmodell.

Zwischenzeitlich war ich dann auch schon so weit:
Ja natürlich, alle Bullen sind Nazis! Bundeswehr? Alles Faschisten! Männer? Alle perverse Frauenschänder! Fleisch essen? Ich bin ein tierquälendes Arschloch, verdammt noch mal!

Lindner? Amthor? Jaaa, die darf man guten Gewissens verachten und ihnen den Tod wünschen! Seehofer? Soll der doch tot umfallen, der Nazi-Opa!
Weil ich bin auf der SEITE DER GUTEN!!! ICH DARF DAS ENTSCHEIDEN, WER GUT UND WER BÖSE IST!

Ich mag aber nicht mehr.
Ich mache Twitter auf, und jedes Mal triggern mich die gleichen Sprüche, Denkweisen und diese sich selbst überhöhende Arroganz, mit der sich meine TL über andere erhebt und selbst feiert.

Wir sind wie AfD Wähler, wie diese aufrechten Patrioten, die denken, sie, aber auch nur sie, wüssten, was wahr und was Lüge ist - Sie haben die Wahrheit für sich gepachtet.

Die Abfälligkeit, die Pauschalisierungen, das Abwerten, das wir den Rechten immer vorwerfen, finde ich jeden Tag 1 zu 1 in meiner Bubble.
Nur weil es die vermeintlich Richtigen trifft, legitimieren wir das uns immer wieder aufs Neue.

Im Grunde gefalle ich mir da selbst nicht mehr.
Und im Grunde ist Twitter auch nicht mehr lustig.
Die ganze Nummer ist nicht mehr lustig.

Aber ich merke auch, dass es mich kickt, mich anzünden zu lassen. Und das ich auch gerne zündle.

Eigentlich bin ich süchtig nach diesem Scheiß.
Aber früher war halt Mett oder Suff oder der Katzencontent der Trigger.
Und der war irgendwie schöner und netter.

Ich werde jetzt erstmal Abendbrot essen.

Ihr Fotzen :-)

Ich kann das um eine Anekdote ergänzen, dann wird es klarer, was ich meine:

Wir waren Anfang der 90er in der Oberstufe, in Neukölln in "West"-Berlin.
Wir hatten lange Haare, "Gegen Nazi" und "Greenpeace" Aufnäher, waren für eine offene, freie Gesellschaft...

Dafür haben wir gekifft, gesoffen und Bands gegründet, in denen wir gegen den rechten Terror in Hoyerswerda angesungen haben, in linken Jugendzentren. Wir hörten Slime, Emils (hahaha), Joy Division, Sepultura und lauter so Zeug.

Wir waren die logische Weiterentwicklung unserer 68er Eltern, die es gut fanden, dass wir kifften, rauchten, soffen, so lange die Noten stimmten.
Und weil wir aufrichtig gegen alles Rechte waren, gegen alles die Umwelt vernichtende, fühlten wir uns auch als gute Menschen.

Aber dann waren wir in der Schule.
Und dort verachteten wir alle, die keine lange Haare hatten, die sich bewusst gegen das Kiffen, das Rauchen, das Saufen entschieden, die immer noch die Pet Shop Boys gut fanden oder sogar Roland Kaiser (Hass pur!).

Wir lästerten hinter dem Rücken, wir rümpften die Nasen, wir grenzten aus, gaben ihnen abwertende Spitznamen.

Da waren wir also: Jung, selbstgefällig, arrogant und überzeugt, absolut okaye Typen zu sein.

Wir haben nicht gemerkt, dass wir uns genauso intolerant aufführten, wie diejenigen, die wir eigentlich verachteten und ablehnten.

Und das ist aktuell Twitter für mich: Dieser Schulhof. Eigentlich geil, voller Leute, die sind wie ich, viel Spaß - aber gleichzeitig auch ätzend.