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Ich lese das Buch “Der Nürnberger Prozess” von Johannes Leeb und Joe Heydecker, der 1945/46 über den Prozess berichtete.

Angeklagt sind die NS-Hauptkriegsverbrecher, die ein letztes Mal den Gerichtssaal betreten. Gerichtsvorsitzender Lawrence verliest nun die Urteile. [THREAD]
Anklagepunkte:
1. Verschwörung
2. Verbrechen gegen den Frieden
3. Kriegsverbrechen
4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Angeklagte, die anwesend sind:
Karl Dönitz, Hans Frank, Wilhelm Frick, Hans Fritzsche, Walther Funk, Hermann Göring, Rudolf Heß, Alfred Jodl, Ernst
Kaltenbrunner, Wilhelm Keitel,
Konstantin Freiherr von Neurath, Franz von Papen, Erich Raeder, Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel, Hjalmar Schacht, Baldur von Schirach, Arthur Seyß-Inquart, Albert Speer und Julius Streicher.
+++ Nun aus den Notizen von Heydecker +++

Am 30. September 1946 startet die Verlesung der Urteilsbegründung. Die Angeklagten erscheinen in Gruppen von je zwei oder drei [...]. Die meisten machen einen aufgeräumten Eindruck, plaudern miteinander und begrüßen ihre Mitangeklagten.
Zuerst werden die Schuldsprüche mit der Begründung verlesen. Am Nachmittag am 1. Oktober 1946 erfahren die Verurteilten - jeder für sich alleine - das Strafausmaß. Die meisten Angeklagten nehmen die Schuldsprüche mit äußerer Unbeweglichkeit entgegen.
Göring hat den Kopf gesenkt, mit Zeige und Mittelfinger drückt er auf die Hörmuschel (Dolmetsch, Anm.) ans rechte Ohr, hört das „Schuldig nach allen vier Anklagepunkten“, weiß sicher, dass das am Nachmittag nur ein Todesurteil bedeuten kann, aber kein Muskel in seinem Gesicht
verrät Erregung. Seine Augen sind durch die dunkle Sonnenbrille verdeckt, seine Lippen zusammengepresst und zu einem unmerklichen Lächeln erstarrt.

Heß ist dran, aber er scheint nicht einmal zu begreifen, dass es sich um ihn handelt. Er ist völlig unbeteiligt, hat auf
den Knien ein paar Blätter liegen und schreib unablässig. Göring beugt sich hinüber und macht ihn darauf aufmerksam, dass nun er an die Reihe kommt. Aber Heß wehrt mit einer unwilligen Handbewegung ab und fährt fort, seine geheimnisvollen Notizen zu machen, ohne sich um das zu
kümmern, was über ihn gesprochen wird. Nicht einmal die Kopfhörer hat er aufgesetzt, und als ihm Göring anschließend den Schuldspruch ins Ohr flüstert, quittiert er das lediglich mit einem geistesabwesenden Nicken.

Keitel sitzt krampfhaft kerzengerade. Kaltenbrunners Kinnladen
mahlen. Rosenberg hockt teilnahmslos zusammengekauert. Frick, bisher unbeweglich, richtet sich bei Nennung seines Namens ruckartig auf. Frank schüttelt kaum merklich den Kopf. Streicher hat die Arme gekreuzt, lehnt sich, da das Wort an ihn gerichtet wird, betont
bequem an die Rückenleiste der Bank, aber zum ersten Mal unterlässt er für die Dauer der Verlesung sein ewiges Gummikauen. Funk rutscht unruhig hin und her, sin Mund zuckt im Kampf mit den Nerven, die ihm schon früher so häufig Tränen in die Augen trieben, sein Kopf
steckt förmlich zwischen den Schultern, die er bis zu den Ohren hochgezogen hat. Schacht sitzt, ebenfalls mit verschränkten Armen, in seiner Ecke und nimmt den Freispruch mit ironischem Lächeln wie eine Selbstverständlichkeit entgegen.

Nach der Verkündung des Freispruchs für
Fritzsche - er ist der Letzte in zwei Reihen - springt sein Anwalt auf und winkt ihm lebhaft zu. Fritzsche und Papen drängen aus der Anklagebank heraus, schütteln Göring und dann auch Dönitz die Hand. Nur Schacht hält sich zurück.

Um 13 Uhr 35 ist der erste Teil der
Urteilsverkündung zu Ende. Das Gericht hat sich zur Mittagspause zurückgezogen. Erst nach Tisch fallen die Urteilssprüche.

Im Presseraum des Justizpalastes drängen sich inzwischen Journalisten aus der ganzen Welt um die Sensation des Vormittags, um die Freigesprochenen und schon
Freigelassenen, Fritzsche, Papen und Schacht. Sie zeigen die beste Laune, lachen und rauchen genießerisch. Schacht trägt einen grauen Pelzmantel. Von allen Seiten prasseln Fragen.

„Wo werden Sie heute wohnen?“
Schacht: „Das möchte ich auch wissen.“
„Werden Sie noch im Gefängnis übernachten?“
Fritzsche: „Nein, lieber in einer Nürnberger Ruine; nur keine grauen Mauern und Gitter mehr!“

„Was sind Ihre nächsten Pläne?“
Papen: „Ich werde zu meiner Tochter in die englische oder zu meiner Frau und meinen Kindern in die
französische Zone gehen.“
Schacht: „Ich werde ebenfalls zu meiner Frau und meinen zwei Kindern gehen, die in der britischen Zone leben, und wünsche nie wieder jemand von der Presse zu sehen.“
Fritzsche: „Für mich ist das Problem der Freiheit ganz neu, ich kann noch nicht sagen,
was ich anfangen werde.“

„Würden Sie wieder ein öffentliches Amt annehmen, wenn Sie von deutschen Behörden dazu aufgefordert würden?“
Papen: „Nein, mein politisches Leben ist definitiv beendet.“
Schacht: „Ich möchte diese Frage erst beantworten, wenn eine solche Aufforderung an
mich ergangen ist.“
Fritzsche: „Für mich bestehen wohl kaum Aussichten. Ich habe nur den Wunsch, mich so rasch wie möglich vor einer deutschen Stelle verantworten zu können für das, was ich einmal im Rundfunk gesprochen habe.“

„Wollen Sie sich auch vor ein einem deutschen
Gericht verantworten, Herr Schacht?“
Schacht: „Ich möchte die Anklage abwarten, bevor ich mich äußere.“
Papen: „Ich bin nicht orientiert, was jetzt vorgeht, und ich weiß nicht, ob es notwendig oder möglich ist, sich vor einem deutschen Gericht zu verantworten.“
„Haben Sie Angst, dass gegen Sie von deutscher Seite ein Anschlag verübt werden könnte?“
Schacht: „Ich wünsche es mir, damit ich einmal sehen könnte, wie das ist, was ich selbst so lange geplant habe.“

„Werden Sie Memoiren schreiben?“
Fritzsche: „Wenn es mir erlaubt wird,
möchte ich ein Buch über den deutschen Propagandaapparat schreiben und aufzeigen, wo Wahrheit und wo Lüge lagen.“

Ununterbrochen zucken die Blitzlichter der Fotografen. Während sich Fragen und Antworten ablösen,
werden die Freigesprochenen von allen Seite mit Autogrammbitten bestürmt. Plötzlich hebt Schacht die Hand und bittet um Ruhe: „Meine beiden Kinder im Alter von drei und vier Jahren haben noch nie Schokolade gehabt. Ich möchte deshalb weitere Autogramme nur noch gegen
Schokolade geben.“
Allgemeines Gelächter, aber deutlich vernehmbar über allem Trubel die Stimme eines Franzosen: „C'est dégoûtant!“

Um 14 Uhr 50 Minuten betritt das Gericht zu seiner 407. und letzten Sitzung den Raum. Eine Verfügung des Gerichtshofs hat alle Fotografen und
Filmleute aus dem Saal verbannt. In diesen Sekunden, in denen die Angeklagten die Entscheidung über Leben und Tod zu hören bekommen, soll ihr Gesicht nicht fotografiert oder gefilmt werden. 

Alle Augen in diesem Saal sind auf einen Punkt gerichtet: die fast unsichtbar in die
Wandverkleidung eingebaute Tür hinter den Anklagebänken.

Mit leisem Rollen öffnet sich die Schiebetür. Aus dem Dunkeln der Öffnung tritt Hermann Göring in das graue Licht des Raumes, hinter ihm zwei Militärpolizisten, die sich links und rechts von ihm aufstellen. Sein
Gesicht ist schlaff und eingefallen. Er nimmt die Kopfhörer, die ihm gereicht werden. Er hört den Dolmetscher.

Gerichtsvorsitzender: „Angeklagter Hermann Wilhelm Göring! Gemäß den Punkten der Anklageschrift…“

Göring winkt mit beiden Händen. Er kann nichts verstehen. Das
Übertragungssystem versagt. Ein technischer Offizier eilt herbei und beseitigt die Störung. Es geht weiter.

Gerichtsvorsitzender: „Angeklagter Hermann Wilhelm Göring! Gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter welchen Sie schuldig befunden wurden, verurteilt Sie der
Internationale Militärgerichtshof zum Tode durch den Strang.“

Unbeweglich, mit gesenktem Kopf, vernimmt Göring den Spruch. Er hebt die Hörer von den Ohren, macht eine rasche, militärisch anmutende Kehrtwendung und verlässt den Saal.
Rudolf Heß betritt den Saal. Mit einer Handbewegung weist er die Kopfhörer von sich. Er steht da, wippt auf den Zehenspitzen, richtet die dunklen Augenhöhlen da- und dorthin, schaut zur Decke, und jeder erwartet, dass er gleich anfangen wird, vor sich hin zu pfeifen.
Gerichtsvorsitzender: „Angeklagter Rudolf Heß! Gemäß den Punkten der Anklageschrift, unter welchen Sie schuldig befunden wurden, verurteilt Sie der Internationale Militärgerichtshof zu lebenslänglichem Gefängnis.“

Heß hört den Urteilsspruch nicht, und erst als ihm ein
Militärpolizist auf die Schulter tippt, dreht er sich tänzelnd um und verschwindet im Ausgang.

Rippentrops Gesicht ist aschfahl. Er hält die Augen halb geschlossen. Unter dem Arm trägt er ein Bündel Akten: „… zum Tode durch den Strang.“

Keitel nimmt in aufrechter Haltung und
mit verschlossner Meine sein Urteil entgegen: „… zum Tode durch den Strang.“

Kaltenbrunners steinernes Gesicht zeigt zum ersten Mal ein leichtes Lächeln, als er die Worte vernimmt: „… zum Tode durch den Strang.“
Rosenberg muss sich offensichtlich zu Haltung zwingen: „… zum Tode durch den Strang.“

Frank hält beide Hände, die er nach dem Aufsetzen der Kopfhörer gerade sinken lassen will, in halber Höhe zu einer flehend erstarrten Geste. Seine Unterlippe ist kraftlos geöffnet, und er
nickt, als er die entscheidenen fünf Worte hört: „… zum Tode durch den Strang.“

Julius Streicher steht mit gespreizten Beinen und vorgerecktem Kopf, als erwarte er einen Hammerschlag: „… zum Tode durch den Strang.“
Sauckel hat den Blick finster auf den Richtertisch geheftet, macht dann eine ruckartige Kehrtwendung: „… zum Tode durch den Strang.“

Jodl lauscht mit leicht vorgebeugtem Oberkörper den Worten, reißt sich dann förmlich die Hörer vom Kopf und stößt ein verächtliches Zischen
zwischen den Lippen hervor, ehe er sich hochmütig aufrichtet und mit steifen Beinen wieder hinausgeht. „… zum Tode durch den Strang.“

Funk, der zweifellos mit einem Todesurteil gerechnet hat, bricht beiden Worten „lebenslängliches Gefängnis“ in Schluchzen aus und macht eine
hilflose Verbeugung gegen die Richter.

Achtzehn Mal hat sich die Schiebetür geöffnet und wieder geschlossen. Jeder Strafausspruch hat etwa vier Minuten in Anspruch genommen. Um 15 Uhr 40 zieht sich das Gericht zurück, seine Tätigkeit ist beendet.
Das Internationale Militärgericht in Nürnbeg hat sein Urteil gesprochen. Zwölf Angeklagte sind zum Tode durch den Strang verurteilt worden: Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frick, Frank, Streicher, Sauckel, Jodl, Seyss-Inquart & Martin Bormann in Abwesenheit.
Heß, Funk und Raeder wurden zu lebenslänglichem Gefängnis, Schirach und Speer zu zwanzig Jahren, Neurath zu fünfzehn und Dönitz zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

/end
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